Winfried R. Garscha
Kaum jemand in Österreich kennt die aus Wien stammende Ruth Maier, deren Tagebücher und Briefe aufgrund einer norwegischen Initiative seit 2014 Teil des UNESCO-Weltdokumentenerbes (Memory of the World) sind – nur sieben Jahre, nachdem der norwegische Schriftsteller Jan Erik Vold sie erstmals publiziert hatte. Seither wurde das Schicksal des Mädchens aus Wien, das gehofft hatte, in Norwegen Zuflucht vor Verfolgung zu finden, aber von Polizisten der Quisling-Regierung ihren Mördern ausgeliefert wurde, zum Symbol der Kollaboration von Teilen der norwegischen Bevölkerung mit den deutschen Besatzern.
2017/18 erinnerte das DÖW an Ruth Maier mit der gemeinsam mit dem norwegischen Zentrum für Holocaust- und Minderheitenstudien gestalteten Wanderausstellung Das kurze Leben der Ruth Maier (1920–1942): Wien – Oslo – Auschwitz.
Ruth Maier wurde am 10. November 1920 in Wien geboren. Die ersten Jahre ihrer Kindheit verbrachten sie und ihre jüngere Schwester Judith in Wien-Währing, in der Dachgeschosswohnung eines Mehrfamilienhauses (Peter-Jordan-Straße 96). 1931 übersiedelte die Familie in den eben erst fertiggestellten Gemeindebau entlang der Gersthofer Straße 75–77 (Stiege 1, Tür 14; Eingang Hockegasse 2). Im Stock über der Wohnung hatte Ruths Vater Ludwig, mit dem sie ein inniges Verhältnis verband, sein Büro. An ihrem 18. Geburtstag wurde sie Zeugin der Gewaltexzesse des Nazi- Mobs auf den Straßen Wiens während des Novemberpogroms 1938. Ruth Maier, die zuvor keinerlei Beziehung zum Judentum hatte, begann daraufhin in ihrem Tagebuch eine Auseinandersetzung über ihre Identität.
Verjagt von der Schule, delogiert aus der Gemeindewohnung, ohne jede Zukunft im nationalsozialistisch beherrschten Österreich, gelang im Jänner 1939 die Ausreise nach Norwegen. Dort lernte sie die um ein Jahr jüngere Gunvor Hofmo kennen; die beiden wurden ein Paar. Die Dichterin Hofmo verwahrte Ruth Maiers Tagebücher; ein erster Versuch von ihr, Teile davon zu veröffentlichen, scheiterte. Nach Hofmos Tod 1995 entdeckte Jan Erik Vold in ihrem Nachlass die Tagebücher, nahm Kontakt zu Judith Suschitzky, der in England lebenden Schwester Ruth Maiers auf, die ihm Ruths Briefe und Familienfotos übergab. 2007 erschien Volds Ruth Maiers dagbok. En jødisk flyktning i Norge, im Jahr darauf erschien die deutsche Übersetzung, die die deutschsprachigen Tagebucheintragungen im Original enthält. Ausgaben in Dänisch, Englisch, Estnisch, Französisch, Hebräisch, Italienisch, Niederländisch, Russisch, Schwedisch und Spanisch folgten.
Ludwig Maier, der Vater: Postgewerkschafter mit internationalen Verbindungen
Irma Maier, die Mutter: Kampf um die Rettung der Töchter
Ludwig Maier, der Vater: Postgewerkschafter mit internationalen Verbindungen
Der Jurist Ludwig Maier wurde als drittes von sieben Kindern von Simon und Jenny Maier am 3. August 1882 in Žarošice/Scharoschitz bei Brünn geboren. Wann Ludwig Maier nach Wien übersiedelte, ist auf der Grundlage der bisher bekannten Dokumente ebenso wenig rekonstruierbar wie die Frage, an welcher Universität er sein Jusstudium absolviert hat. Sicher ist allerdings, dass er sich das Studium durch Arbeit bei der Post finanzierte: Wie aus den erhalten gebliebenen Teilen seines Personalakts bei der Postverwaltung hervorgeht, trat er im April 1899, d. h. im Alter von 16½ Jahren, in den Postdienst ein.
1919 spielte Ludwig Maier bei der Gründung des freigewerkschaftlichen Verbands der Post-, Telephon- und Telegraphenbediensteten eine führende Rolle. Die neue österreichische Postgewerkschaft übernahm die Initiative zur Gründung eines internationalen Gewerkschaftsverbands der PTT-Bediensteten. Das erste Meeting in Wien (5. bis 6. Februar 1920) wählte ein Exekutivkomitee, das am 8. Februar 1920 Ludwig Maier zum Generalsekretär des internationalen Dachverbands der Post-, Telephon- und Telegraphenbediensteten bestellte. Er bekleidete diese Funktion bis zu seinem Tod 1933.
Im Zuge der Ausschaltung der demokratischen Institutionen im Laufe des Jahres 1933 nahm die Regierung Dollfuß im Herbst auch die "Privilegien" sozialdemokratischer Gewerkschafter ins Visier. Die Postdirektion widerrief am 24. Oktober 1933 Maiers seit März 1920 gültige Dienstfreistellung als Mitglied des Zentralausschusses der Postgewerkschaft. Bereits 1931 hatte der christlichsoziale Antisemit Leopold Kunschak im Gemeinderat gegen die Zuteilung der Gemeindewohnung an Maier gewettert. Nun wurde Maier in ein kleines Postamt im benachbarten 19. Bezirk versetzt. Über der "Diensttabelle" im Personalakt findet sich in übergroßer Schrift der Vermerk: "Entpragmatisiert". Nur wenige Wochen später erkrankte Ludwig Maier an Wundrose (Rotlauf); er starb am 28. Dezember 1933. Seine sechs Geschwister sowie weitere Verwandte wurden während des Holocaust ermordet.
Irma Maier, die Mutter: Kampf um die Rettung der Töchter
Irma Maier nahm nach dem Tod ihres Mannes ihre Mutter, Anna Grossmann, zu sich. Die beiden Frauen versuchten, Ruth Kindheit zu ermöglichen. Ab dem März 1938 war die Familie jedoch, wie die gesamte jüdische Bevölkerung, dem Hass der Wiener Antisemiten ausgeliefert. Dabei hatten die beiden Mädchen keinerlei Beziehung zum Judentum, 1927 war Ludwig Maier auch formal aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten.
Im Juni 1938 veranlasste die Wiener NSDAP die Kündigung von rund 2000 Mietverhältnissen durch das städtische Wohnungsamt – alle zum 31. Juli 1938. Unter den Gekündigten war auch Irma Maier. Sie bekämpfte vergeblich die Kündigung. Ein Bekannter ihres Mannes, der Kaufmann Hugo Singer, nahm sie und ihre Angehörigen zur Untermiete in seiner Wohnung in der Oberen Donaustraße 43 auf.
Die Familie betrieb ihre Ausreise. Als Erste konnte Irma Maier ihre jüngere Tochter in Sicherheit bringen – Judith verließ am 10. Dezember 1938 mit dem ersten der sogenannten Kindertransporte Wien in Richtung England. Dort heiratete sie später den Chemiker Hans Suschitzky, den sie schon als Kind gekannt hatte. Von England aus unterhielt sie fast anderthalb Jahre nach dem deutschen Überfall auf Norwegen im April 1940 noch Briefkontakt mit ihrer älteren Schwester. Judith Suschitzky lebt nach wie vor in Manchester.
Ruth war zu alt für einen Kindertransport. Ihre Mutter bemühte sich, die Kontakte ihres verstorbenen Mannes aus seiner Tätigkeit als Generalsekretär des internationalen Dachverbands der Postbediensteten zu nutzen, um für Ruth eine Möglichkeit zu finden, die Schule abzuschließen und die Hochschulreife zu erhalten. Schließlich erklärte sich der norwegische Postgewerkschafter Arne Strøm bereit, alle Behördenwege zu erledigen und Ruth für die zwei Jahre, die sie bis zum eksamen artium (d. h. zur Matura) benötigen würde, aufzunehmen. Das Ehepaar Strøm wohnte mit seiner Tochter und einer jungen Hausangestellten in Lillestrøm (östlich von Oslo), im Obergeschoss des Postund Telegrafenamts in der Storgata 7. Am 30. Jänner holten die Strøms ihre neue Mitbewohnerin vom Ostbahnhof in Oslo ab. Ruth durfte das Zimmer der Tochter beziehen und begann mit großem Eifer Norwegisch zu lernen. Nach der Matura wollte sie in die USA auswandern; alle diesbezüglichen Bemühungen scheiterten jedoch.
Nachdem sie ihre beiden Töchter in Sicherheit gebracht hatte, versuchte Irma Maier, für sich und ihre Mutter Einreisepapiere nach Großbritannien zu bekommen. Als sie endlich alles geregelt hatte, verließen beide am 29. April 1939 Wien. Von Brighton aus wandte sich Irma Maier am 5. Mai brieflich an die Wiener Behörde der Reichspostdirektion und entschuldigte sich, dass sie wegen der kurzfristig erforderlichen Fahrt nach England nicht mehr persönlich hatte vorsprechen können, und ersuchte um "Zurückhaltung" ihrer Witwenpension. Bis ins Jahr 1940 hinein versuchte die Reichspostdirektion festzustellen, ob Irma Maier "Volljüdin" sei und wann sie nach Wien zurückzukehren gedenke. Im März 1942 veranlasste die Reichspostdirektion schließlich den Wegfall der Versorgungsbezüge.
Im Juni 1946 wies sich Irma Maier bei der österreichischen diplomatischen Vertretung in London aus und erbrachte damit den für die Auszahlung ihrer Pension erforderlichen Lebensnachweis. Im Oktober ersuchte sie schließlich die Finanzlandesdirektion um die Nachzahlung der Pension seit Mai 1939, da sie Österreich "unter dem Zwange der Verhältnisse" verlassen hatte müssen, und bot an, für den Fall, dass eine Überweisung ins Ausland nicht möglich sei, den Betrag auf ein zu eröffnendes österreichisches Konto zu überweisen. Für die österreichischen Behörden kam das nicht infrage, da sie ja weiterhin im Ausland lebte. Eine Anweisung sei nur möglich, wenn die bezugsberechtigte Person nachweisen könne, dass die Beträge für die Anschaffung lebensnotwendiger Güter bzw. zur Unterstützung der Kosten einer Rückkehr nach Österreich benötigt würden, oder falls damit Schulden bei inländischen Gläubigern zurückgezahlt oder Leistungen an unterhaltsberechtigte Angehörige beglichen würden.
Da sich nichts bewegte, wandte sich Irma Maier an den ÖGB. Die Gewerkschaft der Post- und Telegraphenbediensteten kaufte 1948 das Grab ihres ehemaligen Vorsitzenden auf dem Döblinger Friedhof. Der Zentralsekretär der Postgewerkschaft Edmund Holzfeind stellte Irma Maier eine Rechnung aus und schickte sie an die Post- und Telegraphendirektion für Wien, Niederösterreich und das Burgenland. Diese blieb dabei, dass auch solche Zahlungen nur auf ein von der Bezugsberechtigten einzurichtendes Sperrkonto überwiesen werden könnten, aus dem dann die Schuldenrückzahlung erfolgen könnte.
1949 änderte sich die Gesetzeslage. Am 24. August 1950 erhielt Irma Maier von der Generalpostdirektion die Nachricht, dass ihr rückwirkend ab 1. Jänner 1950 eine Witwenpension zugestanden wurde, obwohl sie am 31. März 1949 die britische Staatsbürgerschaft angenommen hatte. Eine Überweisung ins Ausland könne jedoch nicht stattfinden. Auch die Zuerkennung eines Ausgleichs für die vom Deutschen Reich eingehaltenen Pensionszahlungen wurde abgelehnt, eine positive Erledigung allerdings der Bundesregierung anheimgestellt. Frau Maier habe nun einmal, hieß es in der Begründung der Postund Telegraphendirektion für Wien, Niederösterreich und das Burgenland vom 18. März 1953, "am 29. 4. 1939 ihren Wohnsitz nach England verlegt, ohne vorher um die hierfür erforderliche Bewilligung nachzusuchen". Als Witwe hätte ihr auch keine dienstrechtliche Maßregelung gedroht. Ihre Behauptung aus dem Jahre 1946, sie habe das Land "unter dem Zwang der Verhältnisse" verlassen müssen, sei nicht nachprüfbar. Allerdings gestand ihr die Postdirektion zu, dass sie um ihre Kinder fürchten musste, da diese "zumindest als Mischling I. Grades" gegolten hätten.
Irma Maier legte den österreichischen Behörden mehrfach dar, dass sie völlig mittellos sei und ausschließlich von Zuwendungen ihrer Tochter Judith lebe. Aus Gründen der "Billigkeit" wurde ihr schließlich durch eine Entschließung des Bundespräsidenten vom 27. Oktober 1954 die tatsächliche Auszahlung der Witwenrente ab 1950 zugestanden.
Das Tagebuch
Seit dem 17. Mai 1933 führte Ruth Maier Tagebuch. Darin beschrieb sie ihre Gefühle, ihren Alltag, dokumentierte aber auch politische Ereignisse und schilderte die Verfolgung der Juden und Jüdinnen nach dem "Anschluss" 1938. Ihr erstes Tagebuch war ein Schulheft. Der Herausgeber der Briefe und Tagebücher, Jan Erik Vold, hat aus diesen frühen Aufzeichnungen nur einige wenige in seine Edition aufgenommen.
Der Tod ihres Vaters 1933 versetzte sie gewissermaßen in eine Schockstarre. Erst der Bürgerkrieg des Februar 1934 ließ sie wieder zur Feder greifen. Am 13. Februar notierte sie die Auflösung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, am 14. Februar schrieb sie: "Es wird Hausdurchsuchung sein. Ich hab' hübsch Angst."
Obwohl sie vor allem alltägliche Begebenheiten notierte, die Veränderungen ihres Körpers während der Pubertät kommentierte und versuchte, mit ersten Erfahrungen des Verliebtseins und von Enttäuschungen zurande zu kommen, interessierte sie sich früh für Politik: "Ich hab' mit Onkel Rudi über die Sozialdemokraten und die Kommunisten gesprochen. Er hat mich sehr beeinflußt! Aber trotzdem zweifle ich noch, was besser ist", schrieb sie am 20. November 1935. Was sie an der österreichischen Diktatur ganz besonders störte, war das durch deren Wirtschaftspolitik verursachte Elend und der zynische Umgang damit. So schrieb sie am 29. Juni 1936: "Winterhilfe, Spenden für hungernde Kinder etc. etc. sind Aushilfe und Täuschungen. Eine Regierung, die anfängt dergleichen Sammlungen zu machen, weiß sich nicht anders zu behelfen, kann keine Arbeitsmöglichkeiten schaffen. Ich bin schon Kommunistin."
Später, in Norwegen, stritt sie sich in Briefen an die Schwester über Trotzki (dessen Schreibstil sie bewunderte) und Stalin (den sie für einen Verräter am Sozialismus hielt). "Aber hinter Stalin steht das russische Volk, und das ist das Ärgste. In England werden Euch in Bezug auf Rußland Illusionen gemacht. Sei skeptisch." Trotzki hingegen, der habe einen "Glauben an die Weltrevolution ... dass man einfach mitglauben muss." Sie kaufte sich die beiden Bände von Trotzkis Geschichte der Russischen Revolution und berichtete Judith, dass sie gern über den Buchrücken strich und darin blätterte. "Ich wollte mir erst ein Paar betörende braune Schuhe kaufen, aber hab' dann doch Trotzki gekauft." (Briefe vom 2. und 28. Oktober 1939)
Beginnend mit 1938, vor allem aber in Norwegen, wurde ihr Verhältnis zum Judentum zum zentralen politischen Thema des Tagebuchs. Zunächst waren es nur fassungslose Schilderungen über Misshandlungen und Demütigungen. Ihren Tagebucheintrag vom 9. Oktober 1938 schloss sie mit den Worten: "Nur weg!!" Eine Woche später zog sie eine erste Schlussfolgerung für sich: "Und ich werde zur bewußten Jüdin, ich spüre es. Ich kann nicht anders." (16. Oktober 1939)
Über die Ausschreitungen während des Novemberpogroms schrieb sie: "Wir schlüpften wie gehetztes Wild ins Haus, keuchten die Stiegen hinauf. Dann begann es: Sie schlugen, sie verhafteten, zerdroschen Wohnungseinrichtungen etc. Wir saßen alle so bleich zu Haus und von der Straße kamen Juden zu uns, wie Leichen." (11. November 1938)
Und am 27. November trug sie ein: "Heut' [...] haben wir uns von Onkel Rudi verabschiedet, Papas Freund. [...] Ja, auch Onkel Rudi, der Journalist, sagt: 'Ich wollte gerne nach Palästina, denn als Jude fühle ich mich ja doch nur dort zu Hause.' [...] Ja! Es ist wahr, Onkel Rudi hat mich darin bestärkt, er hat es gesagt, ausgesprochen, was bis jetzt verhalten in mir war: Zu Hause sind wir Juden doch nur in Palästina. Ich möchte dazu sagen: 'heute'. Denn morgen, morgen kommt der Sozialismus. Dann ist unser zu Hause die Menschheit, die Welt, dann werden wir wie Menschen unter Menschen leben dürfen." Doch schon bald darauf hieß es: "Ich weiß nun, daß Zionismus mit Sozialismus sich nicht vereinbaren lässt. [...] Ich bin Sozialistin und ich bemühe mich, diesen in mir gefühlten Sozialismus zu erobern, zu erarbeiten." (9. Dezember 1938)
Besonders bitter war für sie der Abschied von ihrer geliebten "Dittl", der Schwester Judith. Am Samstag, den 10. Dezember, um elf Uhr abends fuhr der Schnellzug des Kindertransports von Wien ab. Im Tagebuch beschrieb Ruth die Szenerie: "In Hütteldorf draußen dunkel und schwarz. Mit Taschenlampen haben die jüdischen Ordner geleuchtet. Und Kinder bis 17 Jahre, Burschen und Mädels mit Rucksäcken und Kofferln. Immer noch einen Kuß. Und noch einen und einen letzten. [...] Kleine vierjährige Kinder haben geschrien. Wahnsinn! Auf den Armen hat man sie wegtragen müssen. Und die Mütter! Die Väter von den Kleinen sind in Dachau ... [...] Es klingt so schön: 'Beim Abschied spielten sich herzzerbrechende Szenen ab'. Nein, das Herz zerbricht nicht so schnell. Mama sagt: 'Wenn einer von den vielen gebrüllt hätte, ein einziger, so hätten alle begonnen.' Nein, es hat niemand gebrüllt, geflucht. Nur geweint haben sie. Nur Tränen, nichts als Tränen habe ich geschaut." Dann entdeckten sie Judith. Die Mutter wollte der Tochter noch einen letzten Kuss geben: "Ganz nah waren ihre Lippen, da hat sie der Ordner auseinandergerissen. 'Machen Sie sich's net schwerer.'" (11. Dezember 1938)
Ruth und Gunvor
Ab 1940 nahm Ruth an den von den norwegischen Nationalsozialisten eingerichteten Arbeitsdienstlagern für Frauen teil. Im Gegensatz zum verpflichtenden Arbeitsdienst für Männer war der für Frauen freiwillig. Sie arbeiteten entweder in Fürsorgeeinrichtungen oder in der Landwirtschaft. Eines der Lager befand sich auf dem Feiring-Hof in Biristrand, am Nordwestufer des Mjøsa, des größten Sees Norwegens, südlich von Lillehammer. Wie Ruth am 3. Jänner 1941 an die Familie nach England schrieb, vertrieben sich die jungen Frauen "die Zeit mit Stricken und Weben" und arbeiteten "als Hausgehilfinnen auf umliegenden Bauernhöfen". Ruth nahm an zumindest drei solchen Lagern teil, außer in Biri auch in Tau bei Stavanger und in Svartskog am Oslofjord.
Beim Arbeitsdienst begegnete Ruth Menschen, die ähnlich kritisch eingestellt waren wie sie. Eine dieser Bekannten stellte sie im Spätherbst 1940 in Biri einer hochgewachsenen schlanken Frau – Gunvor Hofmo – mit den Worten vor: "Hier ist jemand, der dir viel Freude machen wird."
Im Brief an die Familie schrieb Ruth über die ersten Wochen zusammen mit Gunvor Hofmo: "Ein Mädel liebe ich sehr ... [...] Sie ist so gut: Wir sprechen ... wir tun einander oft weh. Vielleicht, weil wir uns zu lieb haben." (3. Jänner 1941) Ebenfalls Anfang Jänner 1941 notierte sie in ihrem Tagebuch: "Ich kann nicht sagen, wie warm mir ist, zusammen mit Gunvor. Ich liebe sehr ihre tiefen Augen. Ich liebe ihre Art, verhalten über Dinge zu sprechen." Und am 9. Jänner 1941: "Gunvors Augen sind dunkelblau. Sie haben kein Ende. [...] Die Tage sind heller, wenn man liebt."
Anfang Februar, nach ihrer Rückkehr nach Lillestrøm, hatte Ruth einen Nervenzusammenbruch und war bis Ende März in psychiatrischer Behandlung. Gunvor kam aus Biri regelmäßig nach Oslo, um sie zu besuchen. Am 14. März schrieb Ruth: "Was Gunvor in mir lebendig gemacht hat, ist das Gute in mir. Sie hat mir gezeigt, mich erinnert daran, was Leben heißen soll. [...] Das materielle Auskommen außer Betracht zu lassen, wenn es um Dinge geht, die man vor seinem Inneren nicht verantworten kann. Dass auch sie so denkt, gab mir neuen Mut."
Der Arbeitsdienst war auch eine Möglichkeit gewesen, der drückenden Enge in Lillestrøm wenigstens für wenige Wochen zu entrinnen. So sehr sie sich anfangs gefreut hatte und dankbar für die Aufnahme durch die Familie Strøm war – auf Dauer hielt sie die körperliche Nähe, die Bevormundung durch Frau Strøm, die ihr richtiges Benehmen, richtige Bekleidung u. Ä. beibringen wollte, nicht aus. Allerdings: Es gab nur diese eine Familie, die sie aufgenommen hatte und auf deren Gastfreundschaft sie angewiesen war. Als sie noch nach Oslo in die Frogner-Schule gefahren war, um sich auf die Matura vorzubereiten, kam sie nicht vor sechs oder sieben Uhr Abend nach Hause. "Mit sechs Butterbroten in der Schultasche verbrachte ich die einzig schönen Stunden in der Deichmansken Bibliothek oder der Universitätsbibliothek." Die Abende vergingen mit "Lesen oder nächtlichem Spazierengehen, verbunden mit Blumenpflücken. In der Schule machte mich meine Einsamkeit zur Aussätzigen. Die Pausen verbrachte ich am Klosett, denn ich hatte Angst vor den Blicken dieser Menschen, die mich immer wieder allein, allein sahen." Die Luft in den Zimmern des Postamts in Lillestrøm erstickte sie, "denn ich wußte: Hier ist einer zu viel!" (15. März 1941, Ullevål-Krankenhaus Oslo)
Die schönste Abwechslung im Krankenhaus war das Zeichnen. "Alle meine Zeichnungen sind in Gedanken Gunvor gewidmet." (17. März 1941) Für Gunvor malte sie auch Aquarelle. Und schrieb Briefe in zunehmend auch stilistisch besserem Norwegisch, in denen sie klagte, dass Gunvor nicht schrieb: "Hast Du Angst, dass meine Antworten Dich verletzen, durch den Panzer, mit dem Du Dich gern umgibst, dringen könnten?"
Im April 1941 meldeten sich Ruth und Gunvor wieder zum Arbeitsdienst – diesmal auf einem Bauernhof in Tau, nahe Stavanger. Mitte Mai wurde Gunvor, deren Angehörige in der norwegischen Widerstandsbewegung aktiv waren, verhaftet, weil sie verdächtigt wurde, nach England fliehen zu wollen, um Nachrichten des norwegischen Widerstands zu überbringen. Nach drei Tagen Haft in Stavanger wurde Gunvor nach Oslo gebracht. Sie wurde gerade rechtzeitig freigelassen, um sich im Arbeitsdienstlager schützend vor Ruth zu stellen, die als Jüdin beschimpft wurde, und mit ihr abzureisen.
Im Sommer 1941 trampten Ruth und Gunvor mit drei weiteren jungen Frauen nach Norden, bis in die Gegend um Trondheim, wo sie bis zum Oktober in einer Gärtnerei arbeiteten. Die beiden schönsten Erfahrungen für Ruth: Bezahlte Arbeit (wenn auch unangemeldet, weil sie keine Arbeitserlaubnis hatte) und das "Zweisiedlerleben" mit Gunvor in einem Zimmer auf einem Bauernhof.
Nach ihrer Rückkehr nach Lillestrøm belegte sie, gemeinsam mit Gunvor, einen Kurs in Maschinschreiben sowie deutscher und norwegischer Stenografie in Oslo, den sie mit dem gesparten Lohn des Sommers bezahlte.
Ab November 1941 akzeptierte die Familie Hofmo, dass Gunvor mit einer Frau zusammen war, und lud die beiden gemeinsam zu Familienfesten ein. Zur selben Zeit begann Ruth, zuerst für den Maler Aasmund Esval, im Frühjahr 1942 auch für den bekannten Bildhauer Gustav Vigeland, Modell zu stehen. Vigelands Gipsfigur Overrasket ("Überrascht") mit Ruth Maiers Körper und dem Kopf eines anderen Modells wurde 2002 in Bronze gegossen und im Osloer Vigeland Park aufgestellt.
Deportation und Ermordung
Zu den ersten Maßnahmen Vidkun Quislings als Ministerpräsident der 1942 gebildeten Kollaborationsregierung gehörte die Erfassung der in Norwegen lebenden Juden und Jüdinnen. Am 4. März 1942 füllte Ruth Maier den ihr von der Polizei zugeschickten "Fragebogen für Juden in Norwegen" aus. Als gegenwärtige Religionszugehörigkeit gab sie "keine (seit 1926)", als frühere Religionszugehörigkeit "mosaisch durch Geburt" an.
Im Herbst 1942 zog Ruth Maier von Lillestrøm nach Oslo, in ein Wohnheim am Dalsberg-Steg. Anfang Oktober 1942 begannen die Verhaftungen, zunächst von jüdischen Männern. Ende November waren Frauen und Kinder an der Reihe. Die Razzia, bei der Ruth Maier verhaftet wurde, fand am 26. November statt. An der Aktion waren insgesamt 300 Polizisten, Gestapo-Männer und Angehörige der nach dem Vorbild der deutschen SA gebildeten Hirden beteiligt. Jan Erik Vold zitierte in der Tagebuchausgabe die Augenzeugin Nunna Moum:
"Sie erzählt, dass die Verhaftung ruhig vor sich ging. Zwei norwegische Polizisten führten die Österreicherin die Treppe hinunter auf die Straße zu einem wartenden Auto. Sie sollte sich auf den Rücksitz setzen, wo bereits zwei in Tränen aufgelöste Mädchen saßen. Die Mädchen im Pensionat weckten sich gegenseitig und beobachteten die Szene. Jemand sagte: 'Wir können auf deine Goldarmbanduhr aufpassen, bis zu zurückkommst.' Ruth antwortete: 'Ich werde nie zurückkommen.'"
Mit 529 jüdischen Männern, Frauen und Kindern an Bord (frühere Quellen sprechen von 532 Deportierten) legte das deutsche Truppentransportschiff Donau vom Akershuskai ab und verließ den Hafen in Richtung Stettin, von wo die Deportierten nach Auschwitz gebracht wurden. Der Fotograf und Widerstandskämpfer Georg W. Fossum von der Hjemmefront (Heimatfront) wurde von einem Polizeispitzel, von dem er manchmal Tipps bekam, alarmiert und nahm heimlich zwei Fotos auf. Beide sind in der Ausstellung des DÖW zu sehen. Die Deportierten wurden, mit wenigen Ausnahmen (meist junge, kräftige Männer) sofort nach ihrer Ankunft in Birkenau in der Gaskammer ermordet. Der letzte Überlebende, Samuel Steinmann, starb 2015.
Ruth Maier im heutigen Norwegen
Nach der Entdeckung der Tagebücher Ruth Maiers im Nachlass von Gunvor Hofmo 1997 arbeitete Jan Erik Vold zehn Jahre an der mittlerweile in zwölf Sprachen vorliegenden Edition. Sie bildete die Grundlage des Theaterstücks Tvillingsjeler (Seelenverwandte, eigentlich "Zwillingsseelen") von Otto Homlung, mit dem das norwegische Riksteatret 2013 auf Tournee ging, und war 2014 auch Vorlage für ein Broadway-Musical. Unter dem Titel Letters From Ruth komponierten Gisle Kverndokk und Akse-Otto Bull, die beiden Autoren des Musicals, eine Oper. KünstlerInnen der New York Opera Society führten im September 2017 erstmals Auszüge daraus in einem szenischen Konzert in der Washingtoner National Gallery of Art auf. Die Filmemacherin Elsa Kvamme arbeitet an einem Film, der das Verhältnis von Ruth Maier und Gunvor Hofmo zur Grundlage hat.
Briefe und Tagebücher der "norwegischen Anne Frank" befinden sich heute im Besitz des Zentrums für Holocaust- und Minderheitenstudien (HL-senteret) in Oslo.
Als sich der damalige norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg beim Staatsakt zum Holocaustgedenktag am 27. Jänner 2012 beim Akershuskai zur Verantwortung des norwegischen Staates für die Verbrechen an den Juden und Jüdinnen bekannte, nannte er Ruth Maier als typisches Beispiel:
"Wie war das mit den Verbrechen gegen Ruth Maier und die anderen Juden? Zweifellos wurden die Morde von Nazis ausgeführt. Aber es waren Norweger, die die Verhaftungen durchführten. Es waren Norweger, die die Lastwagen fuhren. Und es geschah in Norwegen. [...] Ohne die Nazis von ihrer Verantwortung zu entlasten, ist es Zeit für uns anzuerkennen, dass norwegische Polizisten und andere Norweger an der Verhaftung und Deportation von Jüdinnen und Juden mitwirkten."
Spätestens seit dieser auch international vielbeachteten Rede ist Ruth Maier zu einem Begriff in der norwegischen Geschichtspolitik geworden.