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Leo Grob: Bevor die Fabriken schliessen

Eine Arbeitsgeschichte der Alusuisse (1960–1991)

Dissertation, Historisches Institut, Universität Bern (Abstract)

 

Diese Arbeit wurde mit dem Herbert-Steiner-Preis 2022 ausgezeichnet.

 

 

Um die Lage der Arbeiter:innen-Bewegung der Gegenwart zu verstehen, ist ein Blick zurück auf die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hilfreich. Denn in diesen Jahren formierten sich wesentliche Problemkonstellationen der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts. Die Symptome dieser Umbruchsphase waren vielseitig – vom Mitgliederschwund der Gewerkschaften und der erodierenden tarifvertraglichen Regulierung der Arbeitsbeziehungen über die Ausbreitung der Mikroprozessor-Technologie bis hin zu neuen Anrufungen der Arbeitskräfte im Zeichen von Markt und Unternehmertum.

Hier setzt meine Dissertation an. Als Vorgeschichte der Gegenwart angelegt, fokussiert die Arbeit auf ein ehemaliges multinationales Unternehmen aus der Schweiz: den Aluminiumkonzern Alusuisse. Als eines der grössten Industrieunternehmen der Schweiz und eines der Big Six der globalen Aluminiumbranche steht Alusuisse beispielhaft für die transnationalen Industrieunternehmen, die durch ausländische Direktinvestitionen ihre Produktionsketten in einer globalen Arbeitsteilung organisierten.

Die Arbeit beleuchtet die Genese neuer Formen von Unternehmen und Personalführung sowie die Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Arbeit und Kapital in den 1970er und 1980er Jahren. Die Studie kombiniert zwei Analyse-Ebenen und mehrere Schauplätze: Mit Blick auf die Schweizer Konzernzentrale in Zürich, untersuche ich die diskursiven Praktiken, mit denen die Topmanager praxis- und zukunftsorientierte Problemdefinitionen etablierten und die Machtressourcen anderer Akteur:innen zu antizipieren versuchten. Zum anderen zoome ich konkrete Standorte in Australien, Italien und der Schweiz heran, um die lokalen wie transnationalen Interaktion von Arbeitskräften, Management und staatlichen Stellen zu untersuchen und in empirisch hochaufgelösten Fallstudien spezifische Umbrüche nachzuzeichnen. Die Studie kann dabei auf das Firmenarchiv von Alusuisse zurückgreifen, das vor kurzem im Schweizerischen Wirtschaftsarchiv zugänglich gemacht wurde. Ergänzend werden Gewerkschaftsquellen aus regionalen Archiven aus der Schweiz und Italien sowie private Nachlässe und Zeitzeugengespräche mit ehemaligen Alusuisse-Arbeitern in Australien und Italien berücksichtigt.

Kapitel 1 beleuchtet die Rationalisierungs-Bemühungen während der Boomphase der 1960er Jahre, mit denen das Management gegen eine sinkende Profitabilität und renitente Arbeiter:innen vorging. Anhand der Expansion von Alusuisse nach Australien analysiert Kapitel 2 die für diese Zeit charakteristische manageriale Planungseuphorie und die Versuche des Unternehmens, die soziale Reproduktion der Belegschaft durch städtebauliche und bevölkerungspolitische Mittel zu beeinflussen. Das Kapitel zeigt die Grenzen dieses social engineerings auf. So entpuppten sich die hohen Investitionskosten für streikpräventive Technologien und für die vermeintlich sozial stabilisierende, suburbane städtische Raumordnung in den 1970er Jahren als nachteilige Risikokonzentration, die das Unternehmen verletzlich machten bei Streiks oder Währungsschwankungen.

Solche Misserfolge spiegelten sich in den facettenreichen und omnipräsenten managerialen Krisendiskursen der 1970er Jahren wider, die in Kapitel 3 behandelt werden. Zwischen 1971 und Mitte der 1980er Jahre sah sich das Alusuisse-Management in ihren unternehmerischen Freiheiten eingeengt, beklagte die zahlreichen Streiks sowie eine zunehmend kritische Öffentlichkeit. Basierend auf diesen Krisenwahrnehmungen entwickelte das Topmanagement marktorientierte und austeritätspolitische Lösungen, welche die zukünftigen Unternehmensstrategien stark prägen sollten. Kapitel 4 spürt den Krisentendenzen am Fallbeispiel der italienischen Alusuisse-Betriebe nach. Dort forderten die Alusuisse-Arbeiter, angespornt durch die massiven Arbeitskämpfen des Heissen Herbstes 1969, Gesundheits- und Umweltschutz sowie ein Ende von Leistungsanreizen und betrieblichen Hierarchien. Alusuisse experimentierte derweil mit einer konfrontativen Herangehensweise gegenüber der kämpferischen Belegschaft. Es entwickelte sich ein Arbeitskampf, der über ein Jahr dauerte, bis zum regionalen Generalstreik eskalierte und mit einer bitteren Niederlage der starken venetischen Arbeiter:innenbewegung endete. Dies läutete in der Region eine Phase von Deindustrialisierung und gewerkschaftlichen Defensivkämpfen ein. Das Beispiel zeigt, wie der industrielle Strukturbruch der 1970er Jahre auch mit Niederlagen der Arbeiter:innenbewegung zusammenhing.

In Kapitel 5 schwenkt die Arbeit zurück auf die Konzernebene und analysiert die graduelle Vermarktlichung des Unternehmens ab Mitte der 1980er Jahren. Alusuisse implementierte Markt- und Wettbewerbsmechanismen im Innern, öffnete sich zugleich hin zum Markt, band also Strategie und Organisation möglichst eng an Marktentwicklungen und (Finanz-)Marktakteure. Auf diskursiver Ebene zeigt sich, wie die Manager zunehmend die Alternativlosigkeit des Marktes als rhetorische Wunderwaffe einsetzten. Kapitel 6 zoomt auf die Walliser Werke in der Schweiz heran, in denen sich ab Mitte der 1970er Jahre die Anzeichen für Umbrüche in den industriellen Beziehungen zu häufen begannen. Um 1975 setzte eine Trendwende bei den Beschäftigungszahlen und der Lohnentwicklung ein: Nach einer langen Wachstumsphase begann die Zahl der Arbeiter nun zu sinken. Auch die Reallöhne stagnierten. In der ersten Hälfte der 1980er Jahren mehrten sich zudem die Friktionen zwischen Management und Gewerkschaften und erstmals seit 30 Jahren scheiterten 1983 die betrieblichen Lohnverhandlungen. Auch kam es zu Restrukturierungen und umfangreichen Personalentlassungen. Automatisierung, das Abschieben von Marktrisiken auf die Arbeitskräfte und die drohenden Betriebsschliessungen verunsicherten derweil die Belegschaft – die Angst vor der Deindustrialisierung überkam die ganze Region. Die Gewerkschaft SMUV stellte sich den unternehmerischen Restrukturierungen nicht in den Weg, sie fügte sich vielmehr den managerialen Argumenten des Standortwettbewerbs. Alusuisse nutzte die Gunst der Stunde, führte die neue Personalpolitik des Total Quality Managements ein, mit der das Unternehmen den Zugriff auf die subjektiven Potentiale und das Wissen der Arbeitskräfte ausbaute.

Indem diese vielschichtigen Entwicklungen zusammengedacht werden, will die Dissertation zu einem empirisch fundierten und differenzierten Verständnis der Arbeitswelt im gegenwärtigen Kapitalismus beitragen – nicht zuletzt um kritisches Wissen für die Arbeiter:innen-Bewegung zu generieren.

 

 

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