Otto Snyder, geb. als Otto Schneider 1910 in Wien als Sohn einer assimilierten jüdischen Familie, Mitglied des Verbands Sozialistischer Mittelschüler und des Republikanischen Schutzbundes, im elterlichen Herrenwäschegeschäft tätig. Nach dem "Anschluss" 1938 Flucht über Kuba in die USA.
Wir sind am 11. März 1938 zu Hause gesessen und haben Radio gehört. Am frühen Abend hat sich Schuschnigg verabschiedet, und dieselben Leute, die am Nachmittag in die Stadt gegangen sind und "Ja für Österreich" gerufen haben, sind nun zurückgeströmt, alle schon mit Hakenkreuzen, und es sind schon die ersten Ausschreitungen gegen Juden passiert. Wir sind schnell in unser Geschäft gegangen, wir haben schon zugesperrt gehabt, und haben die Plakate für die von Schuschnigg geplante Volksbefragung aus den Fenstern herausgenommen. Am Samstag, wie wir das Geschäft aufgemacht haben, hatten schon alle Wachleute die Hakenkreuzschleifen, und die SA und SS sind schon durch die Stumpergasse gegangen. [...]
Sonntag früh sind wir aufgeweckt worden. Ein Nazifunktionär ist zu uns in die Wohnung gekommen und hat uns aufgefordert, ins Geschäft hinunterzugehen. Wir mussten eine Hakenkreuzfahne nähen, denn unser Haus hat noch keine gehabt. Die wussten natürlich, dass die Mutter auf der Maschine nähen konnte, ich musste die Fahne zuschneiden und die Stoffe für die Fahne beistellen.
Am Montag um 6 Uhr früh wurden wir aufgeweckt, es wurde an unsere Tür gepumpert, ich bin aufgesprungen, hab' beim Guckerl hinausgeschaut und habe schon schwarze und braune Uniformen gesehen. Das erste, was bei der Tür hereingekommen ist, war ein Revolver; ich wurde zurückgestoßen, die Tür wurde aufgestoßen, und zwei schwarz und zwei braun Uniformierte haben mich ins Speisezimmer gestoßen und sind ins Schlafzimmer eingedrungen. Dort haben sie die Mutter und den Vater aus den Betten gerissen, haben meiner Mutter nicht einmal eine Möglichkeit gegeben, einen Überwurf anzuziehen. Sie ist dort im Nachthemd gesessen. Der Vater war 55 % kriegsinvalid, hat schwere Schlafmittel genommen und hat die ersten zehn Minuten überhaupt nicht gewusst, was los war. Dann sind sie systematisch vorgegangen, haben alle Laden herausgezogen, umgedreht und Geld - oder was immer - gesucht, sind auch in den Wäscheschrank gegangen, haben alles auf die Erde geworfen und durchgewühlt. Was immer sie gefunden haben an Dokumenten, Geld oder Schmuck, haben sie mitgenommen. Am Sonntag hatte mein Vater für die folgende Woche Rechnungszahlungen vorbereitet, die Posterlagscheine ausgefüllt und das Geld dafür zusammengelegt. Am Montag früh bin ich immer auf die Post gegangen und hab die Zahlungen gemacht. Das war alles hergerichtet, und diese "Herren" haben uns die Erlagscheine und Rechnungen gelassen, das Geld haben sie aber eingesteckt. Dann mussten wir uns anziehen, und mein Vater und ich mussten mit drei von ihnen ins Geschäft gehen. Einer ist bei der Mutter geblieben. Wir mussten das Geschäft aufsperren, und die haben unseren wartenden Arbeiterinnen gleich "Siegesprämien" gegeben von dem Geld, das sie sich aus unserer Wohnung geholt hatten, mit der Bemerkung: "No, der Jud' hat euch wahrscheinlich sowieso ausgebeutet, da habt's Siegesprämien." Im Geschäft musste ich mit dem Vater auf einer Seite stehen, und sie haben alles systematisch durchgesucht und haben Dokumente unsere persönlichen Dokumente gefunden und noch etwas Bargeld. Der Vater hat eine Zweischillingstück-Sammlung gehabt. Damals hat es Spezialausgaben von Zweischillingmünzen gegeben, die jedes Jahr mit einer anderen Prägung rausgekommen sind. Diese Sammlung haben sie gefunden und natürlich mitgenommen. Wir hatten eine große eiserne Kassa, die mussten wir aufsperren. Aber da haben wir nichts drinnengehabt, außer Dokumenten, unter anderem meinen Reisepass, den haben sie auch konfisziert. Dann haben sie die älteste von den Arbeiterinnen als Kommissärin eingesetzt, also als kommissarische Verwalterin, bis ein regulärer Verwalter gekommen ist.
Die Arbeiterin war zwei, drei Tage im "Amt", dann haben wir ein reguläres Parteimitglied als Kommissär bekommen, bis ich weggefahren bin. Ich habe später eine Fotografie bekommen, die offenbar damals jemand gemacht hat. Wir hatten ursprünglich eine Firmentafel, die über drei Fenster gegangen ist. Die Fotografie zeigt, dass die Firmentafel auf eine Fensterlänge reduziert worden war, die eine Hälfte war mit Lateinbuchstaben, die andere Hälfte mit hebräischen Buchstaben beschrieben. [...]
Den Vater haben sie dann mitgenommen, aufs Polizeikommissariat oder vielleicht ins "Braune Haus" in der Hirschengasse, das weiß ich nicht mehr. Das war alles am Montag.
Zu der Zeit hatte ich eine Freundin, die mich jeden Tag in der Früh angerufen hat, weil's für sie einfacher war, mich anzurufen als umgekehrt. Sie hat damals gerade angerufen, wie die Nazis bei uns im Geschäft waren. Ich durfte nicht zum Telefon. Einer von denen ist zum Telefon gegangen, und wie meine Freundin eine fremde Stimme gehört hat, hat sie abgehängt. Sie hat zwei und zwei zusammengezählt und hat meinen Bruder, der in der Nähe für eine englische Firma gearbeitet hat und noch unbehelligt war, angerufen, um ihm zu sagen, dass bei uns irgendwas los ist. Er war nur ein paar Gassen entfernt von uns und ist herübergekommen. Da war der Vater schon weg, und wir waren natürlich alle aufgeregt. Mein Bruder hat uns beruhigt und gesagt, er wird schauen, was er machen kann. Der Bruder seiner Frau war tschechoslowakischer Staatsbürger, was am Anfang ja geholfen hat. Der Mann hat durch die Vaterländische Front Untergrundverbindungen gehabt, auch zu den Nazis. Er musste den Nazis große Gefallen getan haben, denn durch seinen Einfluss ist dann unser Vater am Abend freigekommen, war aber psychisch vollkommen zerstört. Drei Wochen ist er im dunklen Magazin gesessen, hat gebrütet, hat nicht drüber hinwegkommen können, wie sie ihn behandelt haben. Er wurde zwar körperlich nicht misshandelt, aber er musste zum Beispiel die Krawatte ausziehen: "Juden brauchen keine Krawatten tragen." Er musste sich in einen Winkel stellen: "Juden brauchen nicht zu sehen, was da vorgeht." Er war kein gläubiger Jude, aber er hat sich als Jude bekannt, hat sich verteidigt, wenn antisemitische Bemerkungen gemacht wurden.
Wir sind damals über die Straße ins Geschäft geführt worden, eine Menge Leute haben das gesehen, Leute die uns gekannt haben.
Wir haben ein paar Telefonanrufe mit Beileidskundgebungen bekommen, aber die Nachbarn sind ferngeblieben. Die haben sich ganz einfach nicht zu uns getraut. Man wusste ja nicht, was die Konsequenzen sein würden. Ein Geschäftsmann aus unserm Haus, scheinbar ein hohes Tier in der Partei, hat uns dann ein Zertifikat verschafft, das wir an die Tür anbringen konnten und in dem mitgeteilt wurde, dass Herr Siegfried Schneider ein verwundeter Frontkämpfer war. Das hat uns geholfen, trotzdem war unser Detailgeschäft natürlich völlig aus. Nur sehr wenige Leute sind zu uns einkaufen gekommen. Allerdings sind in den ersten paar Wochen nach der Machtübernahme die Deutschen hier in Wien wie Bienenschwärme eingebrochen und haben alles aufgekauft. Die Herren sind Hemden aus gutem Material kaufen gekommen. Das gab es in Deutschland schon nicht mehr, dort hatte man nur mehr Ersatzstoffe. Innerhalb weniger Tage waren wir ausverkauft. Denen hat das nichts gemacht, dass wir österreichische Juden waren. Aber die Großfirmen, die wir beliefert hatten, haben uns sofort alle Verträge gekündigt.