Hedy (Hedwig) Hollitscher, geboren 1909 in Wien, Kindergärtnerinnenausbildung, ab Jänner 1928 Kindergärtnerin der Gemeinde Wien. Ende April 1939 Flucht nach England, später u. a. Kindergärtnerin im Kinderheim von Anna Freud in London, Engagement in einer Schauspielgruppe und in der Bibliothek im Austrian Centre.
Nach Kriegsende Rückkehr nach Wien.
Verstorben 2006.
Im Jänner 1938 habe ich mein zehntes Dienstjahr als Kindergärtnerin vollendet. Ich hab' noch bei meinen Eltern zu Hause in der Leopoldstadt gewohnt. Nach dem "Anschluss" sagte ich, ich fahr' nicht mehr zum Dienst. Ich hab' mich ganz einfach gefürchtet. Meine Mutter hat gesagt: "Du gehst so lange in den Dienst, bis man sagt, dass du nicht mehr hingehen darfst." Also hab' ich gefolgt. [...]
Nachdem Hitler in Wien einmarschiert ist, bin ich in den Kindergarten gekommen, da haben die Kolleginnen alle vier Kindergruppen in den Spielsaal zusammengenommen, das war ein sehr schöner großer Saal, und haben mir alle Kinder überlassen. Sie sind dann in die Küche gegangen und haben Hitlers Einmarsch gefeiert. Das war mein erstes fürchterliches Erlebnis: Sie haben getrunken, gejohlt und gesungen, und ich bin mit den vielen Kindern, ich glaube, es waren 70 oder 75, nicht fertig geworden. Ich hab' einen großen Kreis gemacht, hab' mit ihnen gesungen und gespielt, das war die einzige Möglichkeit. Ich bin dann weinend nach Hause gekommen und hab' zu meiner Mutter gesagt, ich geh' nicht mehr. Ich hab' mich geweigert, bin ins Rathaus gegangen, zu meiner Dienststelle, zur Inspektorin, die mit mir recht gut war, und wie ich das Zimmer betrete, hat sie mich so angeschaut, als ob sie mich vorher nie gesehen hätte, mich nie gekannt hätte. Jedenfalls hat sie mich gefragt, über ihre Brille schauend, was ich will, da hab' ich gesagt, ich bin Jüdin, und hab' ihr den vorangegangenen Tag geschildert. Da hat sie gesagt, ich soll meinen Gebührenurlaub antreten und auf weitere Weisungen warten. Ich hab' damals vier Wochen Urlaub genommen, und nach diesem Urlaub hab' ich die Zuschrift gekriegt, dass mein Dienstverhältnis gelöst ist, dass ich nicht mehr kommen soll. Ich hab' damals, das klingt vielleicht heute sehr komisch, eine Pension gekriegt, nachdem ich zehn vollendete Dienstjahre hatte. Die hat der Briefträger jeden Monat ins Haus gebracht. Das klingt jetzt eigentlich unvorstellbar. [...]
Wir wollten auswandern und haben unsere Fühler nach allen möglichen Richtungen ausgestreckt. Wir sind also Schlange gestanden bei Ämtern, und nachdem man stundenlang gestanden ist, hat man erfahren, dass man an einer falschen Stelle war und dass dieses Dokument oder jenes fehlt. Es war sehr schwierig, das Ganze. Ich hatte eine Cousine, die ihren Koffer für einen Urlaub gepackt hat. Sie ist am 13. März weggefahren, über Italien nach Argentinien. Die hat mir geschrieben, ich soll einen Friseurkurs besuchen, Friseurinnen würden sehr gesucht. Also hab' ich am Graben eine Friseurschule besucht, ich war vier- oder fünfmal in der Woche dort, und zwar mit zwei Freundinnen. Wie wir einmal so über den Kohlmarkt nach Hause gehen, ist auf der anderen Straßenseite ein SA-Mann gegangen, der kommt plötzlich auf uns zu. Er hat gefragt: "Sind Sie Österreicherinnen?" - "Ja." - "Jüdinnen?" - "Ja." - "Dann kommen Sie mit." Und dann sind wir alle drei in ein Bürohaus geführt worden, wo SA und SS gearbeitet haben. Da haben wir einen Kübel Wasser bekommen und Fetzen und Bürsten und mussten dort die Fußböden in den Büroräumen reiben. Nach jedem Quadratmeter mussten wir frisches Wasser holen. Vom Hof haben wir die Kübel mit Wasser raufgeschleppt und haben dann stundenlang den Boden gerieben. Eine Freundin hatte einen kleinen Buben zu Hause, der auf sie gewartet hat, und die hat gebeten, ob sie zu Hause anrufen darf, damit ihr Kind weiß, dass sie später kommt. Aber das durfte sie nicht. Auch ich durfte nicht anrufen. Nachdem wir fertig waren mit dem Fußbodenreiben, haben wir dann im Hof von den SA-und SS-Leuten die Autos gewaschen. Wie wir mit dem Autowaschen fertig waren, sind wir ins Looshaus geführt worden am Michaelerplatz, in ein Lokal, und dort mussten wir diese Transparente, die über die Straße gespannt waren, mit der Losung "Ein Volk, ein Reich, ein Führer", bügeln und zusammenlegen. Inzwischen ist es vier Uhr geworden, und sie haben uns dann nach Hause gehen lassen. Meine Mutter hat natürlich schon sehr besorgt gewartet. Mein älterer Bruder, der schon verheiratet war, hat mit seiner Frau in Meidling ein Hutgeschäft gehabt. Meine Schwägerin musste sich vors Geschäft stellen mit einer Tafel, auf der stand: "Bin eine Jüdin, kauft nicht bei mir ein". Mein Bruder musste Kruckenkreuze wegreiben vor ihrem Geschäft. Das Geschäft wurde ihnen um einen Pappenstiel "abgekauft".
Unsere Auswanderungspläne sind weitergegangen, leider konnten wir für unsere Eltern nichts tun, weil sie zu alt waren, um im Ausland zu arbeiten. Man hat nur ein "Permit" bekommen, wenn man arbeitsfähig war. Meine Schwägerin war die erste, der durch Bekannte in London eine Einreise bewilligt wurde.
Nach der "Kristallnacht" mussten wir aus unserem Haus in der Leopoldstadt raus, das Haus wurde "judenrein" gemacht. Wir hatten großes Glück, mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, war tschechischer Staatsbürger, der hat ein sehr schönes Haus in Währing, in der Cottagegasse, gehabt. Er ist aber als tschechischer Staatsbürger gleich in die Tschechoslowakei gegangen, in den Geburtsort meiner Mutter. So war sein Haus leer, und wir sind alle eingezogen. Da hat sich niemand um uns gekümmert. Auch ein anderes verwandtes Ehepaar hat dort Unterschlupf gefunden, ebenso mein Bruder, der im Prater gewohnt hat, und auch die Schwägerin. Die ist aber dann, am 4. Dezember, bald nachdem wir in Währing eingezogen sind, nach England gefahren. In der Zeit, in der wir noch, also von März 1938 bis November, in der Leopoldstadt gewohnt haben, sind wir von den nichtjüdischen Parteien sehr belästigt worden. Nur unsere Nachbarin, die war Nichtjüdin, die war sehr nett zu uns. Aber es haben sehr viele Jugendliche im Haus gewohnt. Einmal haben sie uns auf die Dacke [Fußabstreifer] hingemacht und haben unsere Wohnungstür beschmiert. Der Hausbesorger, der war illegaler Nazi, der hat als Kind sehr oft bei uns gespielt und hat sich nun irgendwie geschämt für das, was da vorgegangen ist. Aber er hat sich sehr distanziert verhalten. Während dieser Zeit haben wir eines Tages die Eltern meines damaligen Mannes [Karl Fellner; Heinz Hollitscher lernte sie im Exil in London kennen] besucht, die auch in der Leopoldstadt wohnten. Wir sind durch die Leopoldsgasse in die Augartenstraße gegangen, und mein jüngerer Bruder, der siebzehn war, ist mit uns gegangen, und auf einmal war er weg. Wir haben geschaut, konnten ihn aber nirgends sehen. Da hat mein Vater gesagt, dass er sicher vorgelaufen ist. Wir sind zu meinen Schwiegereltern gekommen, er war aber nicht dort, und wir haben ihn auch nicht gefunden. Wie wir dann nach Haus' gegangen sind, am Abend, hat meine Mutter bei dem Hausbesorger angeklopft und hat ihm das erzählt. Und da hat er gesagt, er wird ihn suchen. Er hat uns geholfen. Mein Bruder war auf der Elisabethpromenade, in der "Liesl" [Polizeigefangenenhaus, heute Rossauerlände]. Sie hatten ihn mit ein paar Leuten zusammengefangen, aber wir haben nie von ihm erfahren, was er dort erlebt hat. Das hat er nie erzählt. Er war ein junger Bursch. Das einzige, was er erzählt hat, war, dass sie in Reih' und Glied aufgestellt wurden, und irgendein SA-Mann hat gefragt, wie spät es ist, und hat ihm gleich die Uhr weggenommen. Dann sind sie auf die Praterwiese marschiert und haben turnen müssen, auch alte Juden mit Bärten. Aber er wollte eigentlich nicht viel erzählen. Jedenfalls, bevor wir wussten, wo er ist, sind meine Mutter und ich von einer Polizeistation zur anderen gelaufen, um ihn zu suchen, bis uns der Hausbesorger gesagt hat, dass er ihn ausfindig gemacht hat. Mein Bruder kam auch tatsächlich dann nach Hause. Der Hausbesorger wusste von dieser Aktion, die da stattgefunden hatte, und hat ihn selbst nach Hause gebracht. Wie wir dann in Währing gewohnt haben, sind mein damaliger Mann und meine Brüder sehr viel ausgegangen, wegen der Auswanderungspläne, und sind immer als Nazi getarnt angezogen gewesen, mit weißen Stutzen, und mein Mann war in Lederhosen und hatte einen Hiaslhut auf. Er war blond, der hat also wirklich nicht jüdisch ausgeschaut, und auch meine Brüder nicht. Wir Frauen sind eigentlich gar nicht weggegangen. Das Einkaufen war sehr schwierig. Wir hatten eine Ungarin jahrelang in der Leopoldstadt, die war so ein Hausmädchen und hat irgendwie zur Familie gehört. Sie ist mitgegangen nach Währing und hat für uns eingekauft. Meine Schwägerin, die schon in London war als Hausgehilfin, hat dort natürlich weiter alles unternommen, um uns herauszubekommen. Der nächste war mein jüngerer Bruder. Der ist ganz legal im Februar 1939 ausgewandert, auch nach England. Meine Schwägerin konnte ihm eine Ausreise verschaffen. Da ist er zunächst in die Tschechoslowakei zu meinen Verwandten gefahren, die haben ihn ausgestattet, und dann ist er von Prag nach England geflogen. Es ist also jeder extra ausgewandert. Dann ist der ältere Bruder am 15. März 1939 weggekommen, auch nach London. Dann mein Mann am 1. April, und ich war die letzte, am 25. April 1939. Ich war also noch über ein Jahr unter Hitler in Wien, ehe ich als Hausgehilfin nach England ausreiste.
Der Abschied von meinen Eltern war natürlich sehr schwer. Mein Vater war viel älter als die Mutter, meine Mutter war 54 und der Vater 68. Wie wir am Bahnhof waren, auch meine damaligen Schwiegereltern waren da, hab' ich mir noch gedacht, meinen Vater werde ich nicht mehr sehen. Aber dass ich meine Mutter noch sehen werde, die noch so jung war, habe ich doch für sicher gehalten.
Die Mutter Hedy Hollitschers, Sidonie Süß (geb. 1884) starb 1940 in Wien, ihr Vater Pinkas (Philipp) Süß (geb. 1870) wurde am 27. April 1942 nach Wlodawa deportiert; seither fehlt jede Nachricht.