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Nachruf auf Lotte Rybarski (geb. Freiberger)

6. Juli 1923 – 8. Dezember 2023

Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes trauert um seine Wegbegleiterin und langjährige ehrenamtliche Mitarbeiterin Lotte Rybarski, die am 8. Dezember 2023 im Alter von 100 Jahren gestorben ist.

Lotte Rybarski kam am 6. Juli 1923 als Lotte Freiberger in Wien zu Welt. Zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 war sie 14 Jahre alt. Später erinnerte sie sich lebhaft an die Nervosität ihrer Eltern – ihr Vater Moritz war Jude, ihre Mutter Marie 1920 zum Judentum übergetreten. Durch ihren Austritt aus der Kultusgemeinde galt Lottes Mutter Marie für die Nazis (in deren Terminologie) als „Arierin“, die „Mischehe“ schützte nunmehr Vater und Tochter Lotte, machte diese aber mit einem Male zum „Mischling“ und zur „Geltungsjüdin“. Als solche lebte Lotte unter ständiger Bedrohung in der NS-Zeit in Wien. In einem Erinnerungsbericht, den sie dem DÖW später übergab, schildert sie diese Jahre plastisch – die Begeisterung überwältigend vieler Österreicherinnen und Österreicher beim Einmarsch, das Wegbrechen und Wegbleiben der einstigen Freundinnen, die beschmierten jüdischen Geschäfte, die Schikanen in der Schule.

„Eines Tages kam die Klassenvorsteherin in die Klasse, um die Namen der Schülerinnen und Schüler zu verlesen, die jüdisch sind, und die Schule zu verlassen haben. Da stellte sich heraus, dass außer uns zwei fast die halbe Klasse aus getauften Mädchen bestand,
die nie eine Ahnung hatten, dass sie nach Hitler als Juden zu gelten haben. Es gab erschütternde Szenen. Ich habe die Schule im April verlassen. Einige Professoren weinten.“


Lotte lernte Schneiderei. Der Vater wurde durch die „Vermögensabgabe“ staatlich beraubt, verlor seine Stelle und durfte nur unter viel Aufwand und Mühe kleine Geldbeträge von einem Sperrkonto abheben. Lotte trug als angestellte Schneiderin zum geringen Familieneinkommen bei. Sie blieb bei ihren Eltern in Wien und ging nicht ins Exil. 1941 wurde der „Judenstern“ eingeführt, dann begannen die großen Deportationen, die auch die eigenen Familienangehörigen betrafen, Tanten und Onkeln. Auch die jüdischen Schneiderinnen rund um Lotte wurden immer weniger.

„Täglich, wenn ich ins Geschäft kam, fehlte die eine oder die andere. Sie kam nie mehr wieder. Wir wurden immer weniger, manchmal fehlten gleich vier oder fünf von uns, man traute sich kaum mehr in die Firma, vor Angst, wer morgen fehlt. Und so passierte es, dass ich als einziger ‚doch Mischling‘ eines Tages alleine war. Alle, alle, waren bereits ‚ausgehoben‘, wie man die Abholung durch die Gestapo nannte, und nach Polen deportiert. Niemand hat überlebt.“

Lotte entging der täglich drohenden Gefahr oft nur knapp, mehr als einmal musste ihre „nicht-jüdische“ Mutter in letzter Minute einschreiten, um Verhaftung und Deportation zu verhindern. „Wenn ich in der Früh in die Arbeit ging, wusste ich nie, ob ich abends wieder nach Hause kam. […] Man war also vogelfrei.“ Das Kriegsende erlebte sie mit ihrem Vater und ihrer Mutter mehr oder weniger Tag und Nacht in Kellern lebend.

Maria, Lotte und Moritz Freiberger (v.l.n.r.). Foto: DÖW (8471)
Maria, Lotte und Moritz Freiberger (v.l.n.r.). Das Foto zeigt Lotte Rybarski, geb. Freiberger, 1939 mit ihren Eltern in Wien. (Foto: DÖW)

Nach Kriegsende erledigte sie Arbeiten als Näherin und Schneiderin, das Leben normalisierte sich erst langsam wieder, schrieb sie am Ende ihres Berichts.


Mit dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) war Lotte lange Jahre auf besondere Weise verbunden. Seit seiner Gründung war das DÖW stark von der ehrenamtlichen Arbeit zahlreicher Freiwilliger geprägt, Menschen, die im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv gewesen waren, die aus den Konzentrationslagern, von Deportationsorten oder aus dem Exil zurückgekommen waren, und einigen, die wie Lotte im Versteck überlebt hatten. Die wenigen bezahlten DÖW-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter an Zahl weit übertreffend, waren sie für die Arbeit des DÖW maßgeblich, von der Sammlung über die Erfassung bis zur Weitergabe ihrer Geschichten in Interviews. Lotte fing nach ihrer Pensionierung mit 60 Jahren an, im DÖW zu arbeiten. Sie war eine Organisatorin, erzählen Kolleginnen und Kollegen, die mit ihr gearbeitet haben – ob in Bezug auf Dokumente, die sie wie im Fall der Akten des KZ-Verbands (1945–1948) penibel studierte und in einem eigenen Formular erfasste, oder in Bezug auf die Organisation anderer Ehrenamtlicher selbst. Nicht wenige von ihnen hatte Lotte „rekrutiert“, manchmal sogar auf der Straße angesprochen und sofort für das DÖW angeworben. 27 Jahre hat sie so als Ehrenamtliche im DÖW verbracht, bis sie mit 87 Jahren entschied, dass es langsam genüge.


Wie wichtig Lotte das DÖW war und blieb, durfte ich in den letzten Monaten selbst erfahren. Ich lernte sie leider erst an ihrem 100. Geburtstag kennen – Lotte feierte ihn Anfang Juli im Malteser Ordenshaus. Voller Witz und Energie wies sie nachdrücklich darauf hin, dass wir im DÖW alle per Du seien und ich mich also unterstehen sollte, sie zu siezen. Sie habe viel Gutes über die letzte Zeit im DÖW gehört und wolle jetzt wieder mit der ehrenamtlichen Arbeit anfangen, scherzte sie. Als ich Anfang November bei ihr anrief, sagte sie: „Ah, Du bist das, gut dass Du anrufst! Sag, wie verhindern wir den Umzug des DÖW auf den Berg?“ Dass ich ihn gar nicht verhindern wollte, nahm sie wohl zur Kenntnis – wir würden das beim Gespräch klären, hielten wir fest. Das kam leider nur mehr kurz zustande. Über Blumen und Besuch hat sie sich merklich gefreut, er strengte sie aber auch an. Beim Abschied fragte ich sie kurz, was sie dem DÖW in Zukunft wünsche, was sie sich selbst für das DÖW in Zukunft wünsche. „Was soll ich mir wünschen? Da sind junge Leute, die die Sache verstehen, mehr kann ich mir nicht wünschen.“


Liebe Lotte, wir verstehen, und werden in Deinem Sinne weiterarbeiten – von wo auch immer, vom Alten Rathaus oder vom Berg.

Andreas Kranebitter (für das DÖW)



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