Egon Lederer, geb. 1904 als Sohn einer assimilierten jüdischen Familie in Karlsbad, später nach Wien übersiedelt, Kürschner. Ab 1929 Mitglied der Kommunistischen Partei. Nach dem "Anschluss" 1938 nach Luxemburg, von dort illegaler Grenzübertritt nach Frankreich. Nach Kriegsausbruch Internierung, Beitritt zu einer Préstataire-Einheit (unbewaffneter militärischer Arbeitsdienst). Nach Einmarsch der Deutschen Flucht nach Südfrankreich, gemeinsam mit seiner Frau Widerstandstätigkeit in Lyon. Anschluss an die Partisanen.
Nach Kriegsende Rückkehr nach Wien. 1968 Austritt aus der KPÖ.
Verstorben.
Bei den Partisanen war die erste Woche äußerst belastend, ich habe nämlich - wahrscheinlich infolge einer starken nervösen Belastung - einen Ischiasanfall gehabt. Dazu kam, dass es immerfort geregnet hat, eine Woche lang. Ich habe gefiebert und muss besonders schlecht ausgesehen haben. Wir haben tagtäglich unseren Standort gewechselt, um nicht erwischt zu werden. Man musste das Gepäck immer hinuntertragen vom Berg - Waffen, Lebensmittel und sonst alles an Ausrüstung, was wir gehabt haben. Dann sind wir eine Strecke mit Lastautos gefahren und dann mussten wir wieder einen Berg hinauf. Das war jeden Tag so. In meinem Zustand ist das schwer gewesen. Aber ich habe durchgehalten. [...]
Am ersten Tag bei den Partisanen hatte ich ein für mich schreckliches Erlebnis. Am Abend dieses Tages war eine Gerichtsverhandlung. Folgendes hatte sich ereignet: Eine Gruppe von drei Burschen ist in der Gegend herumgezogen und hat sich als ein Détachement [Abteilung im militärischen Sinn] von der "Carmagnole" [in Südfrankreich agierende internationale Partisanenabteilung, in der auch zahlreiche Österreicher kämpften] ausgegeben. Sie haben Requisitionen durchgeführt und Zechen geprellt. Sie haben sich wie richtige Banditen benommen. Und nun war das doch so, dass vom Wohlwollen der Bevölkerung unsere Sicherheit und unser Leben abgehangen sind. Solange wir mit den Bauern und mit den Bürgern der Umgebung in einem guten Einverständnis lebten, waren wir von ihnen geliebt. Aber wenn solche Dinge passierten - sie konnten ja nicht unterscheiden zwischen der Wahrheit und der Lüge -, bestand die Gefahr, dass wir isoliert werden. Ein solches Verhalten war daher ein Angriff auf unsere Existenz und auf den Ruf der Partisanen überhaupt. In unserer Gruppe befand sich ein italienischer Kamerad namens Pierre, der gut Französisch gesprochen hat, wenn auch mit einem Akzent und mit einigen Italianismen. Er war ein ganz wunderbarer Typ: energisch, liebenswürdig und der beste Autofahrer, der mir je untergekommen ist. [...]
Pierre übernahm es, die Sache zu erledigen. Er würde die drei aufspüren und sie festnehmen, er allein. Er musste quer durch Lyon. Die Bande hat auf der anderen Seite von Lyon ihr Unwesen getrieben. Es war nicht sehr schwierig, ihre Spur zu bekommen. In einem Gasthaus, wo sie gezecht haben, hat er sie gefunden. [...]
Einer ist am Weg zum Lager geflüchtet. Aber die anderen zwei hat er tatsächlich ins Lager gebracht. Der eine war ein extremer Dummkopf, der von dem anderen getäuscht wurde. Er hat geglaubt, er ist wirklich ein Partisan. Er war so dumm, dass er freigesprochen wurde, weil er seine Beschränktheit bei der Verhandlung derartig unter Beweis gestellt hat. Der andere war ein schon vorbestrafter Verbrecher, der schon verschiedene Dinge am Kerbholz hatte, wie er uns sogar freimütig erzählt hat. Der wollte nichts anderes als eine Gelegenheit, zu Geld zu kommen, in einer Zeit, wo es nicht leicht war zu leben, ein gutes Leben zu führen. Die Verhandlung ist geführt worden wie eine Gerichtsverhandlung. Der Kommandant Roman hat die Verteidigung übernommen und der Kommandant-Stellvertreter die Anklage. Die Anklage war die einer gefährlichen Schädigung der Partisanen überhaupt und der "Carmagnole" im Besonderen. Es gab keinen Ausweg. Der Angeklagte ist dann erschossen worden, wir haben vorher über das Urteil abgestimmt. [...]
Das war ein Alpdruck, der mich nie mehr ganz verlassen hat. Wir haben dann ein lebhaftes Wanderleben geführt. Zwischendurch haben wir Aktionen gemacht. Wir haben beispielsweise in Gruppen von drei bis fünf Leuten, je nach der Situation, die Muttern bei den Schienenschrauben abgeschraubt, wobei die Schrauben aber drinnen geblieben sind. Man musste die Schienen genau untersuchen, um die Beschädigung überhaupt zu erkennen. Aber wenn eine Lokomotive drübergefahren ist, ist die Schiene verschoben worden. Damit war die Entgleisung gesichert. Die Deutschen haben Patrouillen gehabt, mit denen sie die Strecken kontrollierten. Sie sind dann dazu übergegangen, mit Draisinen zu kontrollieren. Das sind kleine Wagen, die auf den Geleisen fahren, die mit Händen angetrieben wurden, die aber sehr rasch sind. Das hat sich aber überhaupt nicht bewährt, weil die Draisine ist einwandfrei drübergefahren, es ist nichts passiert. Aber eine Lokomotive mit ihrem ungeheuren Gewicht hat die Geleise verschoben. Bei solchen Aktionen ist im Allgemeinen den Menschen nichts passiert. Es ist nur eine Entgleisung gewesen, aber die hat dazu geführt, dass es viele Stunden gedauert hat, bis die Linie wieder frei war. Das ist klar. Das ist so weit gekommen, dass die Deutschen ihre Verbindungen in die Provinz nicht mehr mit der Bahn aufrechterhalten konnten. Wir hatten Verbindung zu Eisenbahnern. Wir haben daher gewusst, jetzt kommt ein Militärzug oder es kommt ein Lastzug, der wichtige Güter transportiert. Solche Züge ließen wir entgleisen. Einmal war ein Militärzug angesagt, und im allerletzten Moment haben wir durch einen Eisenbahner erfahren, dass ein Personenzug kommt. Die Gruppe konnte gerade noch verständigt werden, aber sie hatte bereits die Schrauben gelockert, also abgeschraubt gehabt. Der Kommandant der Fünfergruppe war ein siebzehnjähriger Junge, ein ungewöhnlich reifer Mensch. Der hat gesagt: "Wir müssen sofort zurückschrauben." In diesem Augenblick ist etwas passiert: Lyon wurde damals mehrmals bombardiert, und diese Bombardements waren für die Alliierten völlig ungefährlich. Ich habe nie gehört, dass ein Flugzeug abgeschossen wurde. Die Bodenverteidigung der Deutschen war sehr schlecht. Um ihre Objekte bei Nacht gut zu treffen, haben die alliierten Flieger Leuchtraketen abgeworfen, und zwar in Massen, und die ganze Gegend wurde auf kurze Zeit taghell erleuchtet. Das ist zufällig genau zu dem Zeitpunkt passiert, als die zurückgeschraubt haben, das war umständlicher als das Abschrauben. Sie haben, knapp bevor der Zug gekommen ist, ihre Arbeit beenden können, und der Zug ist unbeschädigt durchgefahren. Es war außerdem ein Punkt, der besonders gefährlich war, es war nämlich knapp vor einer Kurve, wo es unbedingt zu einer schweren Entgleisung gekommen wäre. Aus diesem Grund ist diese Gruppe dann vom Generalstab besonders gelobt worden.
Ich war bei ein paar Aktionen dabei, die aber undramatisch verlaufen sind. Das heißt, wir haben aufgeschraubt, und wir hatten immer die Pflicht zu warten, bis der Zug kommt, um zu sehen, was passiert. Es war so, dass die Lokomotivführer dann immer die Sirene eingeschaltet haben. Sie hat losgeheult, und das war so, wie wenn ein verwundetes Tier brüllt. Das war das Signal für die Deutschen zu kommen. Aber ehe sie gekommen sind, waren wir natürlich schon weg. Wir haben diese Aktionen immer mit einem Auto gemacht. Das heißt, wir sind mit einem Auto in die Nähe gefahren, haben das durchgeführt und haben uns nur so lange in der Nähe aufgehalten, bis die Sache vorbei war. Diese Aktionen waren im Allgemeinen sehr wirksam, und das Gefahrenmoment war eigentlich relativ gering. Denn wenn dann Truppen gekommen sind, waren wir schon längst nicht mehr in der Gegend. [...]
Unser Generalstab war der gaullistische Generalstab, den wir anerkannt haben. Wir hatten sonst zu den Gaullisten keine Verbindung, aber den Generalstab haben wir anerkannt. Das war eine politisch-taktische Frage. Einmal bekamen wir von dort die Nachricht, die Deutschen haben die Absicht, Großaktionen gegen die Partisanen in der Umgebung von Lyon zu unternehmen. Wir haben den Auftrag bekommen, unsere Gruppe zu teilen. Wir waren damals insgesamt ca. 70 Mann. Die Teilung war eine Vorsichtsmaßnahme. Wenn etwas passiert, ist es besser, es trifft 35, als es trifft 70 Leute. Durch einen Zufall hat mich der Kommandant mitgenommen, und wir sind mit einem uralten Lastwagen eine Bergstraße hinaufgefahren. Es war ein Wagen, der mit Holzkohle betrieben wurde. Solche Wagen konnten auf einer Bergstrecke nur im Schritttempo fahren. Es war Nacht, und wir haben während der Fahrt tief unten im Tal gesehen, dass sich eine Kette von gleichmäßigen Lichtern nähert. Das war ein eindeutiges Zeichen, dass ein Militärkonvoi im Anmarsch ist. Es hat sich später herausgestellt, dass sie unser altes Lager, das wir verlassen haben, umstellten, mit 00 Mann. Die Deutschen haben sich in der 2. Linie gehalten, in der 1. Linie war die Miliz der Vichy-Regierung [französische Regierung im unbesetzten Teil Frankreichs, die mit Hitlerdeutschland kollaborierte]. Wir haben Beobachter ausgeschickt, die haben nur Schüsse gehört. Aber sie konnten nicht helfen, denn wir konnten uns nicht auf einen Kampf mit 2000 Mann einlassen, auch wenn die Kameraden in Gefahr sind. Das war einfach unmöglich. Später erst hat sich dann Folgendes herausgestellt: Die Kameraden sind umstellt worden. Von den zwei Wachtposten, die aufgestellt waren, wurde der eine überrumpelt, der andere ist ins Lager geflüchtet und hat gemeldet, dass das Lager anscheinend in einem weiten Bogen umstellt wird. Es war aber ein Lager in einer günstigen Situation. Es war am Berg oben, rundherum waren Sträucher und Bäume, und es war äußerst unübersichtlich. Bei Nacht da einen Angriff zu machen war schwierig, auch für eine große Übermacht. Im Lager waren ca. 2000 kg Sprengstoff. Den hatten wir einmal nachts aus einem Bergwerk herausgeholt, wo wir zu den Arbeitern Verbindung hatten. Mit diesem Sprengstoff und mit Zündschnüren hätte man ein derartig fürchterliches Feuerwerk entzünden können, das selbst 2.000 Mann einschüchtert. Aber der Kommandant-Stellvertreter hat den Kopf verloren, er war vollkommen ratlos. Er hat, wie sich die Truppen auf Hörweite genähert hatten, begonnen, mit ihnen wegen einer Übergabe zu verhandeln. Während sich die Deutschen dem Lager näherten, spielte eine Gruppe mit fünf Kameraden, Italienern, eine entscheidende Rolle. Sie hatten eine richtige militärische Ausbildung hinter sich, und sie hatten ein Maschinengewehr. [...] Diese fünf Burschen haben entgegen dem Befehl und entgegen aller Meinungen des Kommandanten das Feuer eröffnet und haben einige Deutsche oder Milizionäre getötet. Weitere sind verletzt worden. Bei den Angreifern brach eine Panik aus, weil sie glaubten, sie könnten das Lager ohne Gegenwehr ausheben. In dieser Panik sind bis auf sieben Mann alle durch die Linie entkommen. Lediglich zu danken war das diesen fünf Italienern, die auch alle durchgekommen sind. Wir hatten zur Sicherheit einen Treffpunkt auf einem anderen Berg ausgemacht, wo wir uns tatsächlich einen Tag später getroffen haben. Die ganze Gruppe ist wiederum vereinigt worden. Die gefangenen sieben Leute sind in Lyon schrecklich misshandelt worden, aber sie sind alle mit dem Leben davongekommen, weil die Befreiung von Lyon rascher erfolgt ist, als die Deutschen es erwartet haben. [...]
Die Befreiung von Lyon am 3. September 1944 vollzog sich undramatisch: Wir hatten den Auftrag, über den Bahnhof - Gare de Vaise - zum Croix Rousse, das ist ein Berg in Lyon, vorzustoßen, ihn zu besetzen und Lyon zu befreien. Wir waren damals noch verstärkt durch verschiedene Bauerngruppen, die zu uns gestoßen sind. Es waren ca. 170 Mann, aber elend ausgerüstet, nur mit Munition für 20 Minuten, und die Aufgabe, die man uns gestellt hat, war vom militärischen Standpunkt aus ein Himmelfahrtskommando. Aber es ist alles wunderbar ausgegangen. Die letzten Deutschen sind, wie sie uns gesehen haben, einfach geflüchtet, und es ist zu gar keinem Gefecht gekommen. Beim Anmarsch haben wir schwere Detonationen gehört, in Abständen von halben Stunden. Die Deutschen haben sämtliche Lyoner Brücken gesprengt. Ich glaube, von den 21 Brücken sind 20 gesprengt worden. Es gibt so viele Brücken, weil zwei Flüsse die Stadt teilen. Eine einzige Brücke ist nicht gesprengt worden, wahrscheinlich infolge unseres Auftretens. Das war nämlich jene Brücke, über die wir die Rhône überqueren sollten. Wir haben es aber, weil wir nicht wussten, ob der Croix Rousse noch besetzt ist oder nicht, vorgezogen, diesen Befehl nicht auszuführen. Nach einer Weile kamen von drüben Schüsse. Es kam zu einer riesigen Schießerei, bei der es aber nur einige Verletzte gegeben hat. Folgendes hatte sich ereignet: Eine andere Partisanengruppe war von Villeurbanne vorgestoßen, von der anderen Seite Lyons. Sie hatten den Croix Rousse besetzt und natürlich von uns nichts gewusst. Wir haben ja keine Verständigung miteinander gehabt. Sie haben auf uns geschossen und wir haben auf sie geschossen. Aber die Distanz war derart groß, dass man praktisch niemanden gesehen hat. Es ist nicht viel passiert. Die Verletzungen sind hauptsächlich dadurch entstanden, dass mit Schrotkugeln geschossen wurde und von der Kaimauer und von den Häusern Kugeln abgeprallt sind und die Leute verletzt haben. Der Kommandant, ich und noch zwei andere haben uns verzweifelt bemüht, dieses Gefecht einzustellen, weil wir gewusst haben, es ist ein kompletter Wahnsinn. Man sieht ja nichts. Aber die Leute waren so erregt, dass wir die Schießerei nicht zum Stillstand bringen konnten. Es hat ungefähr eine dreiviertel Stunde gedauert. Und damit war Lyon befreit. Das heißt, die Deutschen waren geflüchtet, und wir sind in die größte Kaserne eingezogen. [...] Ich habe mich sofort, schon nach der ersten Woche, um Demobilisierung bemüht. Ich bin ganz offiziell als Oberleutnant demobilisiert worden. Manche haben versucht, eine richtige Offizierslaufbahn einzuschlagen. Es sind ihnen aber wahnsinnige Schwierigkeiten in den Weg gelegt worden. Die reguläre Armee war natürlich bemüht, so rasch wie möglich diese Linken loszuwerden.
Ungefähr zwei Stunden nach der Befreiung Lyons kam die reguläre Armee von Süden her herauf nach Lyon. Natürlich mit einer tollen Ausrüstung, mit Tanks und mit Flugzeugen und was man sich sonst nur denken kann. Aber uns hat man den Wahnsinnsauftrag gegeben, den Croix Rousse zu stürmen! Es war klar, was man da beabsichtigte, aber wie gesagt, die Sache ist durch die Umstände gut ausgegangen.