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Otto Skritek: Dachauer Alltag

Otto Skritek, geb. 1909 in Znaim/Znojmo, aufgewachsen in der Nähe von Hollabrunn. Angestellter. Mitglied des Zentralvereins der Kaufmännischen Angestellten, 1934-1938 illegale Arbeit als Gewerkschafter. Am 22. August 1939 im Zuge einer Verhaftungsaktion gegen amtsbekannte KommunistInnen und Revolutionäre SozialistInnen festgenommen, ab 13. April 1940 KZ Dachau, 10. November 1944 Einrückung zu einer Strafkompanie, Dezember 1944-1945 russische Kriegsgefangenschaft.

1945 leitender Sekretär der Sektion Handel der Gewerkschaft der Privatangestellten. Vizepräsident der Wiener Arbeiterkammer. Abgeordneter zum Nationalrat und Bundesrat. Mitglied des Vorstands des DÖW

Verstorben 1998.

 

 

Ich wurde am 22. August 1939 in den frühen Morgenstunden von der Gestapo aus der Wohnung geholt und in das Gefangenenhaus Roßauerlände gebracht. Bei meiner Einlieferung sah ich, dass ununterbrochen neue Gefangene gebracht wurden, unter denen ich meinen Freund Karl Flöttl erkannte. Es handelte sich, wie ich später erfuhr, um eine Gestapoaktion gegen Kommunisten und Revolutionäre Sozialisten. Ich wurde in eine Einzelzelle gesteckt und nach 14 Tagen Einzelhaft der Gestapo am Morzinplatz zum Verhör gebracht. Die Gestapo kannte meine illegale Tätigkeit in der RS [Revolutionäre Sozialisten] und sogar meine Decknamen "Bruno" und "Norbert". Man wusste auch Bescheid über eine beabsichtigte Zusammenkunft mit Heinz Hackenberg im Jahr 1939. Da ich eine Tätigkeit nach dem März 1938 leugnete, wurde ich wieder in die Einzelzelle auf der "Liesl" [Gefangenenhaus Roßauerlände] zurückgebracht. Nach weiteren drei Wochen kam ein Gestapobeamter in meine Zelle mit einem Schutzhaftbefehl wegen "Vorbereitung zum Hochverrat", mit Zuteilung in das KZ Dachau. Während die meisten der bei dieser Gestapoaktion Verhafteten in den nächsten Wochen in das KZ Buchenwald gebracht wurden, konnte ich den ganzen Winter 1939, es war ein sehr schwerer Winter, in der wesentlich günstigeren Polizeihaft auf der "Liesl" verbringen.

 

Anfang April [1940] wurde ich nach Dachau überstellt. Wir waren ca. 20 Personen, die an diesem Tag eingeliefert wurden. Wir mussten uns in einer Baracke in einer Reihe aufstellen und wurden von einem SS-Scharführer gefragt, warum wir eingeliefert worden seien. Dabei wurden einige von uns mit Faustschlägen von diesem SS-Mann niedergestreckt, wenn ihm unsere Antwort nicht gefiel. Ich hatte Glück und wurde nicht niedergeschlagen. Von dem Häftlingslagerläufer Sepp Mörtel, einem jungen deutschen Sozialdemokraten aus Oberbayern, wurde ich nach Befragung über meine politische Herkunft dem Block 24, Stube l, zugeteilt. Ich erhielt die Nummer 2941. Der Stubenälteste wies mir ein Bett im dritten Stock zu. Dort sah ich den Namen Olah. Auf meine Frage, wo denn der Olah Franzl dann schlafen würde, meinte der Stubenälteste: "Da brauchst du dich nicht zu kümmern, er hat drei Wochen Bunker und kommt nachher in den Strafblock." [...] Als die Kommandos einrückten, begrüßten mich Hermann Lackner und Alexander Eifler recht herzlich. Ich traf in dieser Stube auch Maleta von der ÖVP und den Pfadfinderführer Prohaska. Sie hofften, Neuigkeiten von mir zu hören, war ich doch der erste Zugang seit mehr als sieben Monaten. Dachau war bei Kriegsausbruch für die SS geräumt worden und dann erst wieder belegt. Meine Freunde waren in diesem harten Winter in den Steinbruchlagern Flossenbürg und Mauthausen gewesen. Leider hatte ich keine angenehmen politischen Neuigkeiten zu berichten.

 

Dann kam der Dachauer Alltag. Zuerst habe ich in dem Kommando Garagenbau gearbeitet und Wurzelstöcke gegraben, eine für einen Angestellten besonders schwere Arbeit. Der Kapo ist mit einem Prügel herumgerannt und hat achtgegeben, ob wir arbeiten. Ich bin bald daraufgekommen, dass der rote politische Winkel eine gewisse Schutzfunktion bei den Kapos gehabt hat. Dachau war ein politisches Lager, die Blockältesten, die Stubenältesten und ein Teil der Kapos waren politische Leute. Das verbesserte unsere Überlebenschancen. Die Arbeit im Garagenbau hätte ich auch ohne Prügel sicher nicht lange ausgehalten. Lackner besorgte mir ein anderes Kommando, und zwar bei dem so genannten "Moor-Express", das einen österreichischen Heimatschützer als Kapo hatte. Der "Moor-Express" war ein Plateauwagen mit Gummirädern und wurde von zehn bis zwölf Häftlingen gezogen. Er hatte alle Transporte im Lagerbereich zu erledigen. Da gab es oft längere Pausen mit Warten, und auch das Wagenziehen war meist nicht allzu schwer. Einen halben Tag habe ich auch bei Gorbach als Kapo in einem Innenkommando gearbeitet. Wir hatten einen Holzstoß umzuschlichten, den wir dauernd hin und her trugen. Gorbach meinte, es sei besser, hier leichte Holzstücke zu tragen, als in der Kiesgrube Sand zu schaufeln. Der Versuch, mich in ein Innenkommando zu bringen, scheiterte. Der berüchtigte SS-Lagerführer Ziel wies mich zurück, wobei ich nur durch rasches Abhauen einem Tritt mit seinen Stiefeln entging. Ein weiterer Versuch nach zwei Wochen gelang, da der Lagerführer an diesem Tag nicht bei der Zuweisung anwesend war. Ein junger deutscher Kommunist und ich wurden dem Krankenbau, dem so genannten Revier, als Schreiber zugeteilt. Auch das schien vorerst zu scheitern, da der Kapo Heiden, ein brutaler Heimwehrler, uns wieder wegschickte. Er erwartete Geld, das er von uns nicht bekommen konnte, denn wir hatten selbst nichts. Doch dann kam wieder Hilfe vom Mörtel Sepp. Er intervenierte bei dem Revier-Kapo und hatte Erfolg. Wir konnten als Hilfsschreiber dort bleiben. Das war ein besonderer Glücksfall.

 

Als ich nach Dachau kam, waren wir ca. 3000 Gefangene dort. Das Lager mit seinen 24 Baracken war damals halb leer. Das änderte sich sehr rasch. Zuerst kam ein Transport mit mehreren Tausend gefangenen Polen. Sie standen zwei Tage und zwei Nächte am Appellplatz, bis sie alle eingekleidet und den Blöcken zugewiesen worden waren. Es waren meist Lehrer, Beamte, Studenten - eine Gestapoaktion gegen die polnische Intelligenz. Nach einigen Monaten wurden viele von ihnen in ein anderes Lager verlegt. Die nationale Zusammensetzung der Gefangenen im Lager entsprach der deutschen Eroberungs- und Unterdrückungspolitik. Waren es zuerst nur deutsche Häftlinge, so folgten dann Sudetendeutsche, dann Österreicher, dann Polen, Tschechen und alle Nationen, soweit der deutsche Wehrmachtsstiefel ihr Land unterjochte. Wir hatten im Krankenbau als Hilfsschreiber für diese neuen polnischen Kameraden so genannte Gesundheitsevidenzblätter anzulegen. Nach dieser Arbeit blieben wir im Revier als so genannte Stationsschreiber. Ich wurde der Infektionsabteilung zugeteilt, der Pfleger dieser Abteilung war der deutsche Sozialdemokrat Zimmermann aus Bayern, der später Revierkapo wurde. Wir hatten über die Zugänge Krankengeschichten anzulegen und bei Visiten durch den SS-Arzt dessen Befunde und Anordnungen festzuhalten. Diese Visiten waren nicht sehr häufig, die ärztliche Tätigkeit der SS-Ärzte war gering. Die Kranken wurden praktisch von den Pflegern versorgt. Und das war wesentlich besser für sie als die Versorgung durch den SS-Arzt. Freilich, gegen die Mangelkrankheiten, die durch die schlechte Ernährung auftraten, wie Ödeme und Durchfall, konnten sie nicht viel tun. Nach dem Wecken hatte ich die Totenmeldung über den halb dunklen Appellplatz zum Jourhaus zu tragen. Am Anfang waren es zwei, drei oder vier Fälle täglich. Dazu bekam ich gute Ratschläge: Halte möglichst Abstand zum Jourhausfenster, sonst bekommst du, wenn dem SS-Mann die Zahl der Toten zu gering war, ein paar Fausthiebe. Abends, nach dem Einrücken der Arbeitskommandos, gab es die so genannte Arztmeldung. Ein SS-Mann bestimmte, wer ins Revier kam, die meisten wurden zurückgewiesen und mussten mit den geschwollenen Beinen oder eitrigen Fingern am nächsten Tag wieder ausrücken. Olah Franz sah ich erst später, als er im Strafblock Stubenältester wurde. Er kam als Patient ins Revier und wurde später gleichfalls in der Schreibstube beschäftigt. Olah und ich kannten uns bereits aus der gewerkschaftlichen Jugendbewegung sehr gut, ebenso aus der Arbeit bei der RS.

 

Hermann Lackner war ein wundervoller Kamerad, immer hilfsbereit. Er teilte seine 10 Mark für Kantineneinkauf, die er abheben durfte, genau mit mir. Von ihm erhielt ich auch die besten Ratschläge, wie man soweit wie möglich Prügel und Strafen vermeiden konnte. So meinte er: "Trage keine Brille, wenn du sie nicht unbedingt nötig hast. Die SS-Scharführer halten jeden Brillenträger für einen Intellektuellen, den sie besonders gerne für ihre Fußtritte und Prügel aussuchen." Lackner war Kapo der Schreinerei, er trug jedoch nie eine Kaposchleife. Lackner und Mörtel machten mich mit dem Genossen Dr. Kurt Schumacher bekannt. Schumacher war Kriegsinvalide aus dem Ersten Weltkrieg, er hatte den rechten Arm verloren, so wurde er in der Bibliothek beschäftigt, wo er zusammen mit dem späteren Stadtrat Matejka arbeitete. Sie versuchten, soweit das überhaupt möglich war, etwas Literatur für uns zu besorgen. Schumacher war der einzige deutsche Reichstagsabgeordnete, der sich in Dachau als Gefangener befand. Von den Kommunisten kannte ich den bayrischen Landtagsabgeordneten Wagner, der mein erster Blockältester war. Schumacher kümmerte sich besonders darum, bei den Zugängen Sozialdemokraten, nicht nur deutsche, sondern auch aus den anderen Ländern, festzustellen, um ihnen bei Zuteilung von Kommandos zu helfen. Seine militärischen Einschätzungen über den Russlandfeldzug erwiesen sich leider im Anfang als richtig. Die Hoffnungen auf deutsche Niederlagen traten nicht ein, im Gegenteil, der rasche Vormarsch war wenig ermutigend für uns im Lager. Schumacher vertrat in der Diskussion auch im Lager, genauso wie später nach 1945, entschieden die Selbständigkeit der sozialdemokratischen Partei gegenüber den Kommunisten. [...] Die Kommunisten hatten selbstverständlich zunächst auf einen Erfolg der Roten Armee gesetzt.

 

Im März 1941 wurden erstmals kranke und invalide Kameraden von den SS-Ärzten ausgesucht und ein Transport zusammengestellt. Im Lager wurde davon gesprochen, die Ausgesuchten würden in ein Invalidenlager ohne oder mit leichter Arbeit überstellt. Niemand ahnte damals, welche Brutalität die Nazi im Schilde hatten. Die ausgesuchten Invaliden wurden nach einigen Wochen auf Lastautos weggeführt. Ihre Kleider blieben in Dachau, das war auffallend. Nach ein, zwei Wochen wussten wir, dass diese Kameraden ermordet worden waren, denn jeden Tag wurden Kleider an die Angehörigen zurückgeschickt, was sonst nur bei Todesfällen geschah. Erst später sickerte die Nachricht durch, dass sie in der Nähe von Dachau vergast worden waren. Es handelte sich um die Euthanasie-Aktion, die erste Gaskammer des "Dritten Reiches", in Schloss Hartheim in Oberösterreich.

 

Im Jahr 1942 kamen Pfannenstiel, Wenger, Löwy und Buchta nach Dachau. Sie hatten eine Zuchthausstrafe wegen illegaler Tätigkeit für die RS, zu der sie vom Volksgerichtshof verurteilt worden waren, verbüßt. Es waren gute Freunde, mit denen ich bis 1938 in der RS im Kreis 5 gearbeitet hatte. Wenger wurde vom Mörtel Sepp in der Lagerschreibstube verwendet und wurde später erster Lagerläufer. Pfannenstiel konnten wir ins Revier als Pfleger bringen, er leitete später die Tbc-Station. Buchta konnten wir im Revier in der Apotheke unterbringen. Für [Fritz] Löwy sah es leider sehr schlecht aus, er erhielt als "Halbjude" den "Judenstern" und wurde dem Strafblock zugeteilt. Jeden Tag beim Einrücken des Kommandos Kiesgrube, das war der Strafblock, fürchtete ich, dass Löwy unter den täglich wegen Fluchtversuchs schwer verwundeten jüdischen Kameraden sei, die zwar ins Revier gelegt wurden, aber für die jede medizinische Versorgung strengstens verboten war und für die es daher auch keine Rettung gab. Ich ersuchte daher den Revierkapo Zimmermann, Löwy ins Revier aufzunehmen. Ich wusste, dass ich da von Zimmermann sehr viel verlangte. Zimmermann ließ sich überreden, und Löwy kam ins Revier - zuerst auf die Fleckfieberstation, dann auf andere Infektionsabteilungen, wo er halbwegs sicher war, denn die SS mied es peinlichst, sich in den Infektionsabteilungen sehen zu lassen. Nach mehr als zwei Monaten Aufenthalt im Revier konnte Fritzl mit einem Transport nach Buchenwald überstellt werden, wo er als "Halbjude" keinen "Judenstern" tragen musste und damit überlebte.

 

Vor Infektionskrankheiten hatte die SS Angst. Natürlich nicht wegen der Gefangenen, sondern wegen der eigenen Gesundheit. Als einmal Typhusfälle auftraten, gab es drei Wochen Quarantäne, keine Arbeitskommandos rückten aus, was wirklich eine Ruhepause war. Wir im Revier, Pfleger und Schreiber, wurden gegen Typhus geimpft, damit ja kein SS-Mann, der im Revier Dienst machte, durch Ansteckung gefährdet war. Die Krankenstation Typhus besuchten die SS-Leute natürlich nicht.

 

Anfangs bestand das Revier aus drei Baracken. In der ersten Baracke, die meist bei Besuchen gezeigt wurde, gab es neben der Ambulanz einen Operationssaal und eine Zahnstation. Der Operationssaal wurde von den SS-Ärzten nur selten benutzt. Häftlingsärzte wurden lange Zeit im Revier nicht zugelassen. Erst später wurden auch Häftlinge als Ärzte eingesetzt. Es befanden sich ja unter den Gefangenen viele prominente Ärzte, vor allem aus Polen und der ČSR. Die Zahnstation wurde schon, als ich ins Lager kam, von einem deutschen Zahntechniker, einem KP-Funktionär, und dem Wiener Sobek, einem Regierungsbeamten, sehr gut betreut. Sie halfen immer. Sobeks freundliches Wesen war dabei noch eine zusätzliche Hilfe für die Kameraden, die sonst ja den ganzen Tag dem Gebrüll der SS-Leute und mancher Kapos ausgesetzt waren. Die übrigen Abteilungen, wo es weniger elegant aussah, und vor allem die Krankenstuben mit den ausgemergelten Patienten mit geschwollenen Beinen, mit Durchfall, aufgequollenen Gesichtern, wurden natürlich nicht gezeigt. […]

 

Fluchtversuche gab es verhältnismäßig wenige. Flüchtlinge hatten auch fast keine Chance. Während die ganze SS in der Umgebung suchte, mussten wir im Lager antreten und am Appellplatz oder in den Lagerstraßen stehen. So lange stehen, bis die Suchaktion der SS abgeschlossen war. Der Zurückgebrachte wurde furchtbar misshandelt und öffentlich, vor dem angetretenen Lager, bestraft.

 

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