DÖW-Veranstaltung: Lese- und Gesprächsabend, 1. Dezember 2022
Siegfried Loewe und Rudolf Leo im Gespräch mit Claudia Kuretsidis-Haider und Lesung aus dem Buch: „Versteckt und verschwiegen“
Siegfried Loewes Geschichte ist kein Einzelfall, und dennoch ist sie außergewöhnlich. Der 1939 in Brüssel geborene Wiener wurde als jüdisches Kind während der NS-Zeit versteckt, wuchs bei Adoptiveltern auf und erfuhr erst als Erwachsener von seiner wahren Identität. „Versteckt und verschwiegen“ heißen seine im Herbst 2022 erschienenen Erinnerungen.
Heute leben nur mehr wenige Menschen, die die nationalsozialistische Terrorherrschaft erlebt und überlebt haben. Die letzten ZeitzeugInnen waren damals noch Kinder. Manchen ist die Flucht mit einem Kindertransport gelungen, andere konnten die Haft im Konzentrationslager überleben, unter abenteuerlichen Umständen untertauchen oder sich verstecken. Viele von ihnen haben nur mehr wenig eigene Erinnerung daran. Manches wurde von ihren Eltern, so diese überlebt haben, erzählt. Andere haben erst viel später über ihr Schicksal erfahren, weil ihre Eltern ums Leben gebracht wurden. Oder weil diese – traumatisiert von ihrem eigenen Überlebenskampf – nicht darüber reden wollten. Es gab auch Kinder, deren Eltern die Flucht gelungen war und die im Exilland der Eltern geboren wurden.
Die belgische Widerstandsbewegung versteckte während der NS-Zeit ca. 3.000 jüdische Kinder und bewahrte sie so vor dem sicheren Tod. Viele dieser Kinder haben ihre Eltern nie wiedergesehen und wurden in Adoptivfamilien großgezogen. So erging es auch Siegfried und seiner Schwester Rebecca. "Lange, sehr lange habe ich gezögert, meine Lebensgeschichte aufzuzeichnen", meint Siegfried Loewe. "Ist diese Vita wirklich von Interesse?"
Seine in Polen geborenen Eltern Chaim und Zlata Grossmann flohen nach Brüssel, wo 1939 Siegfried und später seine Schwester Rebecca geboren wurden. Bald von den Nationalsozialisten auch in ihrem Exilland verfolgt übergaben sie die Kinder 1942 an die Organisation L’ enfant caché ("das versteckte Kind"). Chaim und Zlata Grossmann wurden nach Auschwitz deportiert und ermordet. Nach der Befreiung Brüssels kamen Siegfried und Rebecca in ein Waisenheim und wurden 1946 von dem nach Brüssel geflüchteten Wiener Ehepaar Alfred und Hedwig Loewe, das im Exil überleben konnte, übernommen. Nach der 1947 erfolgten Rückkehr nach Wien adoptierten sie die Kinder – und verschwiegen ihnen gänzlich ihre wahre Identität, von der Siegfried Loewe erst als Student der Universität Sorbonne in Paris im Alter von 22 Jahren im Oktober 1961 durch einen Zufall erfuhr. Von dieser Erkenntnis traumatisiert konnte auch er sich über viele Jahre nicht mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen. Erst jetzt im Alter von mehr als 80 Jahren fühlt sich der viele Jahre an der Universität Wien tätige Romanistikprofessor Siegfried Loewe in der Lage, über sein Schicksal und seinen Lebensweg zu sprechen. Wenigstens die Enkel und Urenkel sollen erfahren, "wo der eigentliche Ursprung eines Teils ihrer Familie liegt", begründet Loewe seinen Entschluss, das Schweigen endlich zu brechen - ein Schweigen, das "das konstante Verhaltensmuster der Nachkriegsgeneration (war), sowohl auf der Täter- wie auf der Opferseite".
Der Historiker Rudolf Leo hat seine Erzählung aufgeschrieben, Fakten recherchiert und Archivmaterial hinzugezogen. So entstand das Porträt einer Reise von Brüssel nach Wien – mit vielen schmerzhaften Stationen, mit ungeplanten Zwischenstopps, aber auch mit hoffnungsvollen
Ausblicken und einem Ankommen am Ende.
Anmeldung erforderlich unter: claudia.kuretsidis@doew.at
Dr. Rudolf Leo ist Mitarbeiter bei der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz und am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes.
Zeit:
01.12.2022, 18.00 Uhr
Ort:
DÖW (Dauerausstellung), Altes Rathaus, Wipplingerstraße 6, 1010 Wien