Doris Baumann, geb. 1914 in Wien, Studium der Zoologie, Promotion 1938, nach den "Nürnberger Gesetzen" "Mischling 1. Grades". Arbeit als Stenotypistin/Sekretärin. Ihr Vater Hans Przibram emigrierte 1939 in die Niederlande, er kam 1944 in Theresienstadt um. Ihre ältere Schwester wurde 1942 in Maly Trostinec ermordet.
Ehrenamtliche Mitarbeiterin des DÖW.
Verstorben 1996.
Meine Eltern haben 1908 geheiratet. Da sind sie beide - meine Mutter war katholisch und der Vater war jüdisch - zum protestantischen Glauben übergetreten. Papa hat gesagt, er kann ihr nicht zumuten, Jüdin zu werden, denn er war ja eigentlich selbst kein gläubiger Jude. Das Christentum hat seinen Charakter mehr angesprochen, und zwar weil es vom Rachegott abgegangen ist, vom Gott des "Zahn um Zahn". Der Gott der Liebe war seinem Charakter mehr gemäß. Es war nicht Charakterlosigkeit, dass er gesagt hätte: "Ach was, ich gebe das Judentum auf!", sondern es war ein Gutteil seiner Überzeugung. Katholik wäre er nie geworden. Das hat er auch immer gesagt: "Das kann ich als Wissenschaftler nicht ..." Er war Naturwissenschaftler, und er hat gemeint: "Das kann ich nicht, da sind so viele Ungereimtheiten drinnen, das kann ich nicht glauben. Aber Christentum an sich ist etwas, was mich fasziniert." [...]
Mein Vater [Hans Przibram] ist am 7. Juli 1874 in Wien-Lainz geboren worden, gestorben in Theresienstadt, im Mai 1944. Er ist im Jahre 1939 nach Holland emigriert. [...] Und mein armer Vater, der ein begeisterter Österreicher und so verzweifelt in Holland war, weil er solche Angst vor der Festnahme durch die Gestapo hatte, hat sich freiwillig für Theresienstadt gemeldet. [...] Er soll angeblich, das habe ich kolportiert bekommen, wie er eingestiegen ist in den Zug, gesagt haben: "Jetzt bin ich näher zu Wien!" [...]
Meine ältere Schwester [Margarita Singer] ist 1909 geboren worden. Sie war ziemlich kränklich, ihr ganzes Leben lang. Sie hat einen Rechtsanwalt geheiratet, 1936, nach mir. Er war ein Vertrauensanwalt der Rothschilds, und zwar hat er, glaube ich, die Güterverwaltung gemacht. Er hat sich umgebracht, einen Tag nach dem Einmarsch der deutschen Truppen. Meine Schwester, die nervenkrank war, ist natürlich vollkommen zusammengebrochen und musste in ein Sanatorium gebracht werden. Sie ist später bei einer Familie, die sie als "paying guest" aufgenommen hat, untergebracht worden. Das war im 4. Bezirk. Das waren auch Juden, und die haben alles verloren gehabt, und Papa hat damals noch ein bisserl über sein Geld verfügen können und hat ihren Aufenthalt dort bezahlt. So war beiden Teilen geholfen. Meine Schwester hatte sozusagen Familienanschluss, und die Leute haben ein bisserl Geld bekommen, damit sie überhaupt existieren können. Das währte natürlich nur sehr kurz, ein paar Monate. Dann mussten die Juden in den 2. Bezirk übersiedeln, wo eine Art Ghetto eingerichtet wurde. Da ist dann meine Schwester noch einmal komplett zusammengebrochen. Mein Vater hatte Wien schon verlassen gehabt. Damals durften wir sie nicht mehr in ein privates Pflegeheim geben. Das war verboten. Sie war mit einem Juden verheiratet gewesen und galt daher nach den "Nürnberger Gesetzen" als "Volljüdin". Sie kam nach Steinhof [Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien]. Dort habe ich sie öfters besucht, bis sie eines Tages auch vom Steinhof abgeholt worden ist. Daraufhin wurde ich [...] in die Kleine Sperlgasse im 2. Bezirk vorgeladen, wo mir - um den Schein der Legalität vorzutäuschen - von vornherein unannehmbare Bedingungen diktiert wurden, durch welche ich angeblich meine Schwester vom Abtransport freibekommen könnte. Das war eine weitere sadistische Methode, durch das Schüren von Gewissenskonflikten Juden und deren Angehörige zu quälen und zu demütigen. Sie wurde laut der nach 1945 eingeholten Auskunft des Meldeamtes nach Minsk abgemeldet. Das muss 1941/42 gewesen sein. Ich habe nie wieder von ihr gehört ...
Meine zweite Schwester war mit einem Herrn Dukes verheiratet. Das war auch eine jüdische Familie. Sie ist 1910 geboren worden. Sie war 19, als sie geheiratet hat. Ihr Mann war viel älter. Die Familie Dukes hatte ein großes Tuchgeschäft hinter der Oper gehabt.
Durch einen "Freund" der Familie, der bei der "Arisierung" des Geschäftes angeblich behilflich sein wollte, wurde mein Schwager mit einer Untergrundgruppe in Verbindung gebracht, die Familienpapiere manipulierte, um die Auswanderung einiger Familien zu erleichtern. Knapp vor der Realisierung der Emigration meiner Schwester und ihrer Familie zeigte der so genannte "Freund" meinen Schwager bei der Gestapo an, in der Hoffnung, sofort das damals blühende Geschäft übernehmen zu können. Nach mehreren peinlichen Verhören am Morzinplatz sah mein Schwager nur den Selbstmord als Ausweg vor sich, um nicht seine Familie und andere in der gleichen Lage mit hineinzureißen. So kam es, dass er sich im Oktober 1940 vom Balkon stürzte, als die Gestapo ihn neuerlich zu einem Verhör holen wollte. Nun war meine Schwester alleine mit drei Kindern geblieben. Sie emigrierte zunächst nach Ungarn, wo sie zum zweiten Mal heiratete. Das ist ihre eigene Geschichte. Jetzt lebt sie in Kanada. [...]
In der Mittelschule habe ich sehr viele jüdische Mitschülerinnen gehabt, von denen ich wusste, dass es Jüdinnen waren. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass es in der Klasse je Antisemitismus gegeben hat. Vielleicht haben die Mädeln darunter gelitten. Das weiß ich nicht, weil mir das nie eingefallen wäre. Ich meine, ich war nicht mit allen, aber mit sehr vielen von ihnen sehr befreundet. Wir haben uns gegenseitig eingeladen. Es war einfach kein Thema. [...]
Der Ausdruck "Halbjüdin" ist ja überhaupt erst durch den Hitler aufgekommen. Kein Mensch hätte den vorher benützt. [...]
Bei uns zu Hause war Antisemitismus insofern ein Thema, als mein Vater und seine Schüler unter dem Antisemitismus an der Universität sehr gelitten haben, und das ist schon besprochen worden, z. B: "Aha, der ist wieder nicht Professor geworden, weil er Jude ist." Aber das hat sich nicht so sehr auf die Religion als eben wirklich auf die Abstammung bezogen.
Mein Vater war auch nicht Zionist, weil er sehr an Assimilation geglaubt hat. Er hat geglaubt, dass die jüdischen Werte in einer modernen Gesellschaft erhalten werden können, wenn von der Idee des Zionismus abgegangen wird. Er hat sich zu hundert Prozent als Österreicher gefühlt, obwohl er sich als Jude verstanden hat. Das ist nie verleugnet worden, das ist immer betont worden bei uns zu Hause. [...]
Ich habe also Zoologie studiert, Chemie im Nebenfach. Hauptfach war Zoologie. Ich habe meine Dissertation im Jahr 1935 bei Professor Marinelli begonnen, über Froschherzen. [...] Meine Dissertation war im Februar 1938 fix und fertig, sie war auch approbiert. Ich glaube, ich verdanke es dem Professor Marinelli, dass ich noch meine Prüfungen und mein Doktorat fertig machen durfte. Eine sehr fragwürdige Ehre, weil ich natürlich den akademischen Eid bei der Promotion schon auf Hitler ablegen musste. Das war im Juni 1938 [damals durften Studenten jüdischer Abstammung noch promovieren]. [...]
Sehr viele kluge Leute, auch aus unseren Kreisen, haben sich damals zusammengepackt und sind weggegangen. Mein Vater war erstens einmal ein wahnsinniger Optimist und hat immer gedacht, dass es einem Universitätsprofessor, der im Ausland so bekannt ist und der einen Teil seines Vermögens der Akademie der Wissenschaften geschenkt hat, doch nicht an Kopf und Kragen gehen wird. Er war damals schon mit seiner zweiten Frau verheiratet, die eine Emigrantin aus Hitler-Deutschland war. Sie wurde sehr nervös, aber mein Vater ist so an seinem wissenschaftlichen Institut und an seiner Heimat gehangen, dass er gar keine Vorbereitungen getroffen hat, um wegzugehen [...]
Er ist bis zu seiner Emigration im Jahre 1939 in unserem Haus vollkommen unbehelligt geblieben. [...]
Sehr bitter war für meinen Vater, dass der Verwalter der biologischen Versuchsanstalt, ein Ingenieur Köck, von einem Tag auf den anderen die Schlösser geändert hat, sodass mein Vater nicht mehr in sein Institut konnte. Also das war ein persönlicher Schlag, der meinen Vater wirklich ganz direkt und schwer getroffen hat, denn diese biologische Versuchsanstalt war ja sein Lebenswerk, die er mit Freunden gegründet hatte und die er 1914 mit einem ansehnlichen Betriebskapital der Akademie der Wissenschaften in Wien geschenkt hatte. Es war eine unerhörte Niedertracht, meinen Vater auszusperren. Mein Vater hat sich dann zu Hause mit seinen Schriften beschäftigt und sich darauf konzentriert wegzugehen. Er hat versucht, ein Affidavit zu bekommen, und er bekam eines von Prof. Dr. Paul Weiss, einem Schüler, der damals schon ein international bekannter Wissenschaftler war. Es war aber die Tragödie, dass er es nur für sich gekriegt hat und dass er seine Frau - seine zweite Frau, meine Mutter ist 1933 gestorben - nicht im Stich lassen wollte. Sie war auch Jüdin. Ich bin überzeugt, er hätte bei seinen ausländischen Freunden sofort auch für seine Frau ein Affidavit gekriegt und hätte sie nachkommen lassen können. Sie wollte aber absolut nicht allein dableiben, was verständlich ist nach allem, was sie mitgemacht hat in Deutschland.
Da hat mein Vater gewartet. Er bekam durch einen anderen Schüler, der schon früher nach Amsterdam gegangen ist, 1939 einen Forschungsauftrag und konnte seine Frau mitnehmen. Damals mussten schon diese "Juden-Wanderungssteuer", "Juwa" hat das geheißen, und die "Reichsfluchtsteuer" bezahlt werden. Die Steuerunbedenklichkeit war gegeben, weil er noch eine Pension bezogen hat, da wurde die Steuer ja gleich abgezogen. Das Einzige, was noch da war an Vermögen, war der Hausbesitz. Da mussten zwei Häuser am Ring verkauft werden. Und da weiß ich eben noch, dass der Papa einem Herrn nachgelaufen ist, damit er die Häuser kauft. Es waren nicht alle "Arisierungen" a priori Gemeinheiten. Es war das Schreckliche, dass die Menschen gezwungen worden sind, solche Verkäufe zu machen. Die Behörden haben ja gewusst, dass noch Besitz da ist. Natürlich haben die Leute auch von dieser Zwangslage gewusst. Das ist ihnen natürlich anzulasten, dass sie nicht den vollen Preis gezahlt haben. Aber ich weiß andererseits, dass sowohl Onkel Karl wie Papa, die beide wegwollten, dem Herrn nachgerannt sind und gesagt haben: "Bitte, überlegen Sie es sich nicht mehr lange. Zahlen Sie, was Sie wollen. Wir müssen weg. Wir brauchen dieses Geld!" Natürlich war es ein lächerlicher Preis. Aber mit dem Geld konnten sie die Abgaben zahlen, sonst hätten sie ja nicht hinausdürfen. Nichts durften sie mitnehmen. Es wurde ein "Lift-Van" [Möbeltransport-Container] gepackt, weil mein Vater immer noch gehofft hat, er wird von Holland in die Staaten gehen können. Dieser wurde bei der Firma Hausner eingestellt, auf Abruf. Und zu dem "Lift-Van" - obwohl er das kleinste von den Übeln war - muss man auch etwas sagen. Der Papa hat sehr schöne alte Möbel gehabt, und zwar hat er Empire und Biedermeier gesammelt. Es waren Museumsstücke, die da eingepackt worden sind. Alles ist im 21. Bezirk versteigert worden, von der "Vugesta". Das war eine Gesellschaft der Gestapo, die hat die Sachen versteigert. [...]
Für meine Familie ging es so weiter, dass mein Mann entlassen wurde von der Gemeinde Wien. Mein Schwiegervater wurde auch von der Gemeinde Wien entlassen. Der wurde - wie das so schön geheißen hat - "provisorisch beurlaubt". Er war gar nicht Jude. Er war nur mit einer "Halbjüdin" verheiratet. Das hat bei einem Beamten schon genügt. Er war aber damals schon ein älterer Herr und ist natürlich in Pension gegangen. Das hat ihn aber auch schwer getroffen. [...]
Mein Mann ist dann Handlungsreisender geworden, nachdem er bei der Gemeinde Wien hinausgeschmissen worden ist. Ich bin als Stenotypistin zu Steyrermühl, zur Papierfabrik, gegangen. Ich habe zunächst probiert, irgendwie als Akademikerin unterzukommen. Da war die Antwort: "Es ist unzumutbar für deutsche Volksgenossen, unter einer Halbjüdin zu arbeiten." [...] Im Sommer 1939 musste mein Mann einrücken. Ich blieb bei Steyrermühl. Es war nicht so, dass ich Freunde gehabt habe, die plötzlich nicht mehr mit mir reden wollten, weil sie gewusst haben, dass ich "halb jüdisch" bin und dass meine Familie Juden sind. Es waren einfach alle Freunde weg. Die Gesellschaft, in der ich gelebt hatte, war zerstört. Aber ich habe neue Freunde gewonnen, die trotzdem zu mir gehalten und gerade deswegen geholfen haben. Und das finde ich eigentlich das schöne Erlebnis, das man gehabt hat. [...] Und solche Freunde hat es viele gegeben. Ich will nicht sagen sehr viele, aber es hat diese Menschen gegeben, die sich untereinander geholfen haben. Das war doch etwas Positives. 1940 hat sich dann mein Sohn angekündigt. [...]
Mein Mann kam vom Polenfeldzug zurück und hat mit Händen und Füßen gearbeitet, damit er nicht mehr zum Militär muss. [...]
Er musste dann seine Papiere alle vorlegen und auch die Papiere der Frau, und da hat es dann "geschnackerlt". Es hat geheißen, er ist wehrunwürdig, denn er ist mit einer "Halbjüdin" verheiratet. Dass er "Vierteljude" wäre, das ging ja noch, aber mit einer "Halbjüdin" verheiratet, das ist gleichzusetzen mit Verräter. Er ist also als wehrunwürdig erklärt worden. Wir haben uns natürlich wahnsinnig darüber gefreut. Es war niemand neugierig darauf, auf dem "Feld der Ehre" zu sterben. Er ist wieder in seiner Firma als Vertreter aufgenommen worden, ist von da an bis knapp vor Kriegsende herumgefahren für Werkzeugmaschinen.
Im Jahre 1944 bin ich nach Strengberg in Niederösterreich übersiedelt, mit den zwei Kindern, inzwischen ist noch eine Tochter auf die Welt gekommen. Da waren die Bombardierungen von Wien schon viel schwerer. Es hat geheißen, dass alle Frauen und Mütter mit ihren Kindern evakuiert werden, aber dass man das bei "Mischlingen" nicht machen wird. Dem wollte ich vorgreifen und habe mit Freunden Kontakt aufgenommen, die in Strengberg ein Gut gehabt haben. Dort war ich dann mit den Kindern - der Bub war damals ca. vier Jahre und das Mädchen ein Jahr alt -, um den Bombenangriffen auszuweichen.
Die Gefahr war dann ganz zum Schluss, also 1945. Da war ich mit den Kindern noch am Strengberg, und mein Mann konnte sich zu uns durchschlagen. Da hat es geheißen, dass alle Männer eingezogen werden zum Volkssturm. Nun muss ich eine Lanze für die Landbevölkerung brechen, zumindest für die dort. Die war sehr, sehr katholisch und war sehr, sehr antinazistisch. Es waren natürlich einige Nazis auch dort. Aber sonst war die Bevölkerung sehr antinazistisch, und die haben meinen Mann versteckt gehabt in einem Hinterstüberl, da hat er sich so halb als Dorftrottel gebärdet und hat Bienenrahmen geklebt. [...]
Woher wir eigentlich den Mut genommen haben, zwei Kinder in der Nazizeit in die Welt zu setzen, das kann ich nicht beschreiben. Es war bestimmt ein gewisser Trotz auch dabei. Es war das Gefühl: Na ja, wenn er die Familie ausrotten will, dann soll er uns alle ausrotten, dann ist schon egal, ob zwei oder drei draufgehen. Aber wenn wir die "tausend Jahre" überleben, dann ist die Assimilation wieder einen Schritt weitergebracht worden, und das Erbgut, das berühmte, auf das sich der Hitler immer so berufen hat, ist nicht ausgeschaltet worden, sondern läuft eben durch uns und durch die Kinder in die nächsten Generationen.