Konstantin Ferihumer: Erinnerungsmacht
(Universität Wien)
Diese Arbeit wurde mit dem Herbert-Steiner-Preis 2024 ausgezeichnet.
Abstract:
Der vergangenheitspolitische Umgang Österreichs mit der eigenen NS-Vergangenheit erfuhr über die Jahrzehnte hinweg einen Wandel, ist jedoch immer noch geprägt von diskursiven Auslassungen innerhalb identitäts- wie machtgebundener Geschichtsnarrative – so auch in der nachträglichen Behandlung des hier gewählten Fallbeispiels der „Arisierung“ der Wiener Uhren und Juwelenbranche nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich. Exemplarisch zeichnet dieses das Verschwinden der einstigen Akteur:innen der „Arisierung“ bzw. ihrer Handlungen aus der Erinnerung der Nachkriegsgesellschaft bis heute nach. So hatte der NS-Vermögensentzug – frei nach Hannes Heer – zwar stattgefunden, aber keine:r war dabei gewesen.
Ausgehend von der grundlegenden Fragestellung, warum noch immer so wenig zu diesem Themenkomplex bekannt und so viel aus dem vergangenheitspolitischen Diskurs der Gegenwart weitgehend ausgeblendet ist, nähert sich die Forschungsarbeit der Thematik in einem zweiteiligen Vorgehen auf mikrosoziologischer Ebene. In einem ersten Teil geht sie der Frage nach, wie die „Arisierung“ der Wiener Uhren- und Juwelenbranche verlief und wer die Akteur:innen des „Arisierungsprozesses“ waren. Darauf aufbauend fragt sie im zweiten Teil danach, was die Werdegänge einstiger Akteur:innen der „Arisierung“ nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges über den vergangenheitspolitischen Umgang der Nachkriegsgesellschaft mit ihrer NS-Vergangenheit aussagen.
Damit erfolgt in einem ersten Schritt die Rekonstruktion der bisher weitgehend unerforschten historischen Ereignisse auf Basis einer explorativ ausgerichteten Netzwerkanalyse. Diese ermöglicht es die „Branchenarisierung“ als multidimensionales Beziehungsgeflecht in seiner Dynamik darzustellen bzw. zu analysieren. Die „Entjudung“ der Branche entpuppt sich dabei als ein von unten getriebener und von oben kanalisierter Prozess des Vermögensentzuges, der als polykratisch strukturiertes Netzwerk interagierender Personen und Institutionen die „Arisierungsmaßnahmen“ mit rasanter Geschwindigkeit umsetzte. Das Forschungsinteresse richtet sich dabei auf die unteren und untersten Ränge des NS-Vermögensentzuges und die Teilhabe der „einfachen Menschen“ an selbigem. Es folgt damit den Zielsetzungen einer abseits der Werdegänge berühmter wie beforschter Nationalsozialist:innen angesiedelten NS-Gesellschaftsforschung, deren Perspektive auch die radikale Transformation der „Volksgemeinschaft“ hin zu einer plötzlich demokratischen Nachkriegsgesellschaft umfasst.
Im zweiten Schritt werden fünf Biografien aus dem ermittelten Akteur:innensample exemplarisch einer vergangenheitspolitischen Analyse zugeführt, die eine über die Jahre 1938 bis 1945 hinausreichende, lange Geschichte des Nationalsozialismus in ihren Fokus nimmt. Diese zeigt, wie auch diese kleinen, ehemaligen Akteur:innen der „Arisierung“ nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das von der österreichischen Opferthese zur Verfügung gestellte Instrumentarium zu nutzen wussten, um ihre gesellschaftliche wie wirtschaftliche Stellung zu behaupten bzw. zu verbessern. Zugleich setzten die in den Jahren der Zweiten Republik agierenden vergangenheitspolitischen Akteur:innen – darunter Volksgerichte und staatliche Repräsentant:innen ebenso wie Kulturinstitutionen und Angehörige der Zivilgesellschaft wie Medienlandschaft – diesem Ansinnen nur wenig entgegen. Diese Bestrebungen trafen vielmehr auf eine, von hegemonial etablierten Geschichtsnarrativen und einem rasch schwindenden Willen zur konsequenten Verfolgung von NS-Straftaten geprägte, den einstigen Akteur:innen der „Arisierung“ zusehends wohlgesonnene vergangenheitspolitische Weichenstellung, während kritische Stimmen zum Verstummen gebracht wurden.
Das theoretisch-methodische Forschungsdesign ermöglicht der Dissertation auf empirischer Ebene nicht nur die Lücken im je aktuellen vergangenheitspolitischen Diskurs offenzulegen, sondern auch aufzuzeigen, welchen Anteil die einstigen kleinen Akteur:innen der „Arisierung“ an der Schaffung dieses von Auslassungen geprägten Geschichtsbildes hatten. Schließlich handelt es sich um langjährig eingeübte, in Interaktion mit hegemonial etablierten Metaerzählungen stehende Versionen einer lückenhaften Vergangenheit, die auf gesellschaftlichen wie individuellen Identitätskonstruktionen fuß(t)en, diese aber auch nachhaltig präg(t)en. So ist es die Macht einer immanent identitätsbezogenen Erinnerung – auf Mikro- wie Makroebene –, die bis heute die Grenzen des Sagbaren in der vergangenheitspolitischen Auseinandersetzung mit der jeweils eigenen NS-Vergangenheit zieht, diskursive Auslassungen bedingt und grade in diesen Lücken, sofern diese offengelegt werden, gültige vergangenheitspolitische Selbstbildkonstruktion vor Augen führt.
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