Die Zeithistorikerin und Antifaschistin Erika Weinzierl - über Jahrzehnte enge Freundin des DÖW, dessen Vorstand sie bis zuletzt angehörte - starb am 28. Oktober 2014 im 90. Lebensjahr.
Über ihr umfassendes wissenschaftliches Wirken hinaus nützte sie ihre Position als Doyenne der österreichischen Zeitgeschichte, um öffentlich gegen Antisemitismus und Rassismus aufzutreten und rechtsextreme und neonazistische Strömungen zu bekämpfen.
Erika Weinzierl wurde am 10. November 2014 in einem Ehrengrab der Stadt Wien auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt.
Erika Weinzierl (im Bild als Festrednerin der Jahresversammlung des DÖW 1969) war dem DÖW seit seinen Anfängen verbunden.
Foto: DÖW
Erika Weinzierl wurde am 6. Juni 1925 als Erika Fischer in eine Wiener Lehrerfamilie geboren. Mit 13 Jahren erlebte sie 1938 den "Anschluss" Österreichs an Hitlerdeutschland. Die folgenden Jahre bis zur Befreiung 1945 sollten ihre spätere wissenschaftliche Arbeit prägen und vor allem die Perspektive, die sie dabei einnahm: die Solidarisierung mit den Opfern. In ihrer wohl bekanntesten Publikation Zu wenig Gerechte. Österreicher und Judenverfolgung (1969, 4. erw. Aufl. 1997) geht sie kurz auf ihre persönliche Geschichte ein:
"Am Anfang dieses Buches wurde gesagt, daß seine Geschichte weit zurückreicht. Sie begann 1938, als bereits kurz nach dem 'Anschluß' die 13 jüdischen Schülerinnen der dritten Klasse eines Gymnasiums für Mädchen in Wien gleichsam über Nacht die Schule verlassen mußten, die wenigen noch verbliebenen 'Mischlinge' von der neuen Direktorin, einer fanatischen Nationalsozialistin, diffamiert und isoliert wurden. […] Ich habe wohl die krasse Ungerechtigkeit empfunden; viele Gedanken habe ich mir über sie allerdings auch nicht gemacht. Nicht gilt das jedoch für jenen nebligen Herbsttag mitten im Krieg, an dem ich in Wien an einer Straßenecke stand, Lastwagen vorbeifahren sah, mit denen man sonst das Vieh transportierte, und Erwachsene mit geduckten Köpfen halblaut und bedrückt sagten: 'Da deportieren s' wieder Juden nach Polen!'
Damals wußte ich bereits von Freundinnen, daß deren nach dem Osten deportierte Verwandten dort in unsagbarer Not leben mußten, daß anfangs noch einige Kartengrüße von ihnen einlangten und dann jede Spur von ihnen erlosch. Im Winter 1944/45 begegnete ich als kriegsdienstverpflichtete Studentin im Wiener Arsenal dem Elend aus Ungarn deportierter Zwangsarbeiter. Alte, schwerkranke, hungernde Frauen lösten uns mit der Nachtschicht ab, von der die jungen 'Arierinnen' befreit waren. Obwohl ich also wahrlich nicht sagen kann, ich hätte von der nationalsozialistischen Judenverfolgung nichts gewusst - was übrigens meiner Meinung nach mit gutem Gewissen nur wenigen Österreichern möglich sein dürfte -, so schien doch auch mir ihr 1945 im vollen Umfang bekannt gewordenes Ausmaß zunächst kaum glaublich. Der bürokratisch organisierte Massenmord von Millionen Menschen überstieg eben mein Vorstellungsvermögen. [...] Noch immer weiß ich keine alle Dimensionen auslotende Antwort auf die mich seit Jahren beschäftigenden Fragen: Wie kam es dazu? Wieso war es möglich? Und warum haben sich die Österreicher nicht zu Aktionen kollektiver Solidarität für die Juden zusammengefunden wie die Holländer, deren Arbeiter streikten, deren Bischöfe einen Protesthirtenbrief von den Kanzeln verlesen ließen, oder wenigstens wie jene Berliner Arbeiterfrauen, die sich - zwar vergeblich, aber dennoch - zusammenrotteten, um den Abtransport ihrer jüdischen Männer zu verhindern?"
Aus: Erika Weinzierl, Zu wenig Gerechte. Österreicher und Judenverfolgung, 4. erw. Aufl., Graz-Wien-Köln 1997, S. 202 f.
1945 begann Weinzierl das Studium der Geschichte und Kunstgeschichte, das sie ebenso wie den Lehrgang des Instituts für Geschichtsforschung an der Universität Wien 1948 abschloss. Anschließend arbeitete sie im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv. 1961 an der Universität Wien habilitiert, war sie ab 1964 Vorstand des kirchlichen Instituts für Zeitgeschichte in Salzburg, wo sie auch an der Universität (ab 1969 als ordentliche Professorin für Österreichische Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte) lehrte. 1973 gründete sie die Zeitschrift Zeitgeschichte - das wichtigste österreichische Medium auf diesem Gebiet -, 1977 das Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften (heute: Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft). 1979 bis zu ihrer Emeritierung 1995 war sie als ordentliche Professorin für neuere und neueste Geschichte am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien tätig, dem sie bis 1990 als Ordinaria vorstand.
Ein Schwerpunkt ihrer Forschung war die tabulose Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Österreich; hier leistete sie Pionierarbeit, beispielsweise mit ihren Arbeiten zur Rolle der katholischen Kirche unter dem NS-Regime. Mit dem DÖW, dessen Kuratorium und Vorstand sie angehörte, teilte Weinzierl gesellschaftspolitische Anliegen: den Einsatz für ein demokratisches Österreich, die Aufklärung über NS-Verbrechen, insbesondere die Shoah, die Auseinandersetzung mit Rassismus und Antisemitismus. Im DÖW fand sie nicht zuletzt Materialien und Unterstützung; immer wieder kam es auch zu Kooperationen, so schrieb sie Beiträge für Publikationen des DÖW (z. B. "Anschluß" 1938. Eine Dokumentation, Wien 1988; Themen der Zeitgeschichte und der Gegenwart. Arbeiterbewegung - NS-Herrschaft - Rechtsextremismus. Ein Resümee aus Anlass des 60. Geburtstags von Wolfgang Neugebauer, Wien 2004), arbeitete an der vom DÖW erstellten Ausstellung 1938. NS-Herrschaft in Österreich mit und nahm an vielen Veranstaltungen - sowohl als Besucherin als auch als Rednerin - teil. Mit Herbert Steiner, dem Gründer des DÖW, verband sie eine jahrzehntelange Freundschaft. Weinzierl war auch viele Jahre Präsidentin (ab 1973) bzw. Ehrenpräsidentin (ab 1992) der Aktion gegen den Antisemitismus und u. a. im Kuratorium des Bruno-Kreisky-Archivs und des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus sowie im Vorstand der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft vertreten.
Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde Weinzierl durch zahlreiche Auftritte in Rundfunk und Fernsehen, bei denen sie sich ungeachtet mancher Anfeindungen nie scheute, zu tagespolitischen Themen kritisch Stellung zu nehmen und nötigenfalls auch Konsequenzen zu ziehen: 1995 etwa trat die "Linkskatholikin", wie sie sich selbst bezeichnete, angesichts der Annäherung Wolfgang Schüssels an Haider und die FPÖ aus der ÖVP aus.
Für ihre wissenschaftliche Arbeit und ihr Lebenswerk wurde Weinzierl vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Ehrenpreis des Presseclubs Concordia (2008) und dem Frauen-Lebenswerk-Preis beim Käthe-Leichter-Preis (2010). 1995 erhielt sie die Josef-Samuel-Bloch-Medaille der Aktion gegen den Antisemitismus; Wolfgang Neugebauer, der damalige wissenschaftliche Leiter des DÖW, ging in seiner Laudatio auf Weinzierls menschliche Qualitäten wie Idealismus, Geradlinigkeit und Lauterkeit ein und kam zu dem Schluss: "Erika Weinzierl wurde zu einer Art Gewissen dieses Landes und seiner Republik."