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Begriffsdiskussion: "Wilde Euthanasie" versus "Aktion Brandt"

Aus: Peter Schwarz: Mord durch Hunger. "Wilde Euthanasie" und "Aktion Brandt" am Steinhof in der NS-Zeit, Vortrag im Rahmen des Symposions "Zur Geschichte der NS-Euthanasie in Wien", Wien, Mai 2000

 

 

Ich möchte meinen weiteren Ausführungen noch eine wichtige Feststellung vorausschicken: Für die zweite Phase der NS-Euthanasie, also nach dem offiziellen Stopp der Aktion "T4" durch Hitler im August 1941, habe ich aus der Literatur den Begriff "wilde Euthanasie" übernommen, gleichwohl er in der Forschung kein unumstrittener ist. (23) Der Historiker Götz Aly wendet sich beispielsweise generell gegen diesen Begriff und möchte ihn durch den Terminus "Aktion Brandt" ersetzt wissen. Alys Konzeption der "Aktion Brandt" beruft sich auf den Zusammenhang zwischen Luftkrieg, Katastrophenmedizin und Anstaltsmord. Er spricht von einer zentral geplanten und dezentral vollzogenen Euthanasie: "Die Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten tötete nicht mehr nach einem vorher festgelegten Plan, der sich an den Tötungskapazitäten orientierte, sondern sie tötete nach örtlichem Bedarf - dezentral organisiert." (24) Michael Wunder, Autor der viel beachteten Studie über das Schicksal der nach Wien transferierten Hamburger Patientinnen, folgt Alys Argumentation und bedauert, dass sich infolge oberflächlicher Literaturrezeption für die zweite Phase der Euthanasie "das Bild der nunmehr vollkommen entfesselten, aus dem Ruder laufenden und unkontrollierten Aktion verfestigen konnte". (25) Hans-Walter Schmuhl nannte alles, was vor der "Reinstitutionalisierung der Euthanasie", also vor dem Anlaufen der "Aktion Brandt" Mitte 1943, an Tötungsaktivitäten in den Anstalten geschah, "wilde Euthanasie". Darunter subsumiert er so verschiedenartige Vorgänge, wie die Aufforderung an einzelne Anstaltsdirektoren, nach der Aktion "T4" mit der Euthanasie doch fortzufahren, aber auch die in den sächsischen Anstalten praktizierten "Dämmerschlafkuren" sowie den bayrischen "Hungererlass", dem zufolge arbeitsfähige, partiell therapierbare Behinderte, bildungsfähige Kinder und Kriegsbeschädigte zu Lasten der übrigen Anstaltsinsassen besser zu verpflegen seien, als auch die Hungerkost in Hessen und Sachsen. (26) Bernd Walter und Heinz Faulstich reservieren den Begriff "wilde Euthanasie" lediglich für eigenmächtige Tötungsaktionen fanatisierter Einzeltäter. (27) Walter empfiehlt, anstelle des Begriffs "wilde Euthanasie" den Begriff der "regionalen Euthanasie" zu verwenden. (28) Ich habe für meine Arbeit dennoch den Begriff "wilde Euthanasie" rezipiert, nicht nur weil er quantitativ in der Literatur überwiegt, sondern auch weil Viktor Brack, einer der Hauptverantwortlichen für die "Euthanasie"-Aktion in der "Kanzlei des Führers", diesen Begriff für die Euthanasie-Morde nach der Aktion "T4" geprägt hat. (29) Ich beziehe den Begriff inhaltlich auf die dezentralen, anstaltsinternen Tötungen, insbesondere auf das organisierte Hungersterben, der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof vom September 1941 bis Ende 1945.

 

 

Anmerkungen

 

23) Eine eingehende und übersichtliche Darstellung der aktuellen Begriffsdiskussionen ist u. a. nachzulesen bei: Faulstich, a. a. O., S. 609-620.

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24) Götz Aly, Medizin gegen Unbrauchbare, in: Götz Aly u. a. (Hg.), Aussonderung und Tod. Die klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren. Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 1, Berlin 1985, S. 57.

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25) Michael Wunder, Euthanasie in den letzten Kriegsjahren. Die Jahre 1944 und 1945 in der Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn, Husum 1992, S. 9.

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26) Hans-Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, Göttingen 1992 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 75), S. 233 f.

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27) Faulstich, a. a. O., S. 616 f.; Bernd Walter, Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne - Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn 1996, S. 684 f.

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28) Walter, a. a. O., S. 684 f.

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29) Ernst Klee, "Euthanasie" im NS-Staat. Die "Vernichtung lebensunwerten Lebens", Frankfurt/Main 1997, S. 440 f; Wolfgang Neugebauer, Wiener Psychiatrie und NS-Verbrechen, in: Brigitta Keintzel/Eberhard Gabriel (Hg.), Gründe der Seele. Die Wiener Psychiatrie im 20. Jahrhundert, Wien 1999, S. 144.

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