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Handbuch zur Shoah in Österreich

Laufzeit des Projekts: Sommer 2023 bis Winter 2026

Durchführung: Wolfgang Schellenbacher, Linda Erker, Andreas Kranebitter
Finanzierung: Patrick Dumont, Nevada, USA

Jakobovitz - Foto: DÖWMassendeportationen begannen in Wien früher als in anderen Teilen des Deutschen Reiches. Bereits am 15. Februar 1941 verließ ein Transport mit etwa 1000 österreichischen Jüdinnen und Juden Wien Richtung Opole, einer Kleinstadt zwischen Radom und Lublin im Generalgouvernement. Ein zweiter Transport von Wien nach Opole ging am 26. Februar 1941 ab. Von den 2003 nach Opole deportierten Wiener Juden sind nur 28 Überlebende bekannt.[1] Eine dieser wenigen Überlebenden war Selma Jakobovitz (recte Adler).

Selma Jakobovitz wurde am 11. September 1905 in Wien geboren. Ihre Eltern Riven (Rudolf) und Teiche (Antonie) stammten aus Galizien, heirateten in Budapest und ließen sich 1896 in Wien nieder, wo Riven Jakobovitz als Schuhmacher arbeitete.[2] Im Jahr 1907 wurde Selmas Bruder Sigmund geboren, 1912 ihre Schwester Minna. Vor dem „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland im März 1938 lebte Selma Jakobovitz gemeinsam mit ihren Eltern in Wien-Favoriten.[3] 1938 beantragten ihre Eltern bei der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien finanzielle Unterstützung, um mit ihren noch unverheirateten Töchtern nach Australien auswandern zu können, wo mehrere Verwandte der Familie lebten.[4] Die Flucht aus Wien gelang jedoch nicht mehr.

Am 10. Februar 1941 wurde Selma Jakobovitz von der Wiener Gestapo erkennungsdienstlich erfasst und anschließend in einen Transport eingereiht. Am 26. Februar 1941 wurde sie von Wien nach Opole deportiert. Ihre Schwester Minna wurde im Oktober 1941 in das Ghetto Litzmannstadt deportiert. Selma Jakobovitz floh aus Opole und kehrte Ende 1941 nach Wien zurück.[5] Hier überlebte sie den Holocaust als „U-Boot“, indem sie sich in der Wohnung des LKW-Fahrers Stefan Ludwan in Wien-Favoriten versteckte.[6] Ihre Eltern wurden Ende April 1942 nach Wlodawa deportiert. Ihre Schwester und ihre Eltern wurden im Holocaust ermordet. Im Oktober 1951 heiratete Selma Jakobovitz Stefan Ludwan in Wien.

 

Persönliche Zeugnisse und Kurzbiographien deportierter österreichischer Jüdinnen und Juden wie jene von Selma Jakobovitz sollen neben Zahlen, Fakten, statistischen Analysen und Einführungstexten Grundlage für ein Handbuch zur Geschichte der Shoah in Österreich werden. Das DÖW arbeitet in den kommenden zwei Jahren an dieser Publikation, die einen Überblick über die Geschichte der Shoah in Österreich samt Zahlen und Fakten zu den etwa 66.500 österreichischen Opfern der Shoah geben soll. Die Ergebnisse werden sowohl in Buchform veröffentlicht als auch auf einer Website zugänglich gemacht.

 

Im Laufe der letzten drei Jahrzehnte erstellte das DÖW eine Online-Datenbank zu österreichischen Holocaustopfern, die kontinuierlich aktualisiert und erweitert wird. Mittlerweile sind unter www.doew.at/personensuche Informationen zu 64.550 Opfern abrufbar.

Durch statistische Auswertungen dieser Opferdatenbank und Interpretationen der Daten anhand digitaler Werkzeuge und Methoden (z.B. räumliche Analysen des Holocausts in Wien) sollen neue Erkenntnisse zum Holocaust in Österreich gewonnen sowie bisher unterrepräsentierte Gruppen identifiziert und hervorgehoben werden.

Kurze Überblickstexte beschreiben die Entrechtung, Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Österreichs. Ergänzt werden sie mit Informationen zu den einzelnen Deportationsorten österreichischer Jüdinnen und Juden. Für Forscher*innen wird dadurch die genaue Anzahl der Deportierten, der Ermordeten und Überlebenden in den einzelnen Transporten samt statistischen Auswertungen zum Alter und Geschlecht zur Verfügung stehen.

 

Eine kurze Analyse aller Verfolgungswellen und Deportationen ermöglicht den Hinweis auf oft nur wenig beachtete Deportationsorte abseits der zahlenmäßig bedeutendsten Deportationsziele wie Theresienstadt oder Maly Trostinec. Auch frühe Transporte aus Wien und Verfolgungsorte wie Opole sowie spätere „Einzeltransporte“ werden für die Forschung aufbearbeitet: Im Februar und März 1941 verließen fünf Transporte mit jeweils etwa tausend Jüdinnen und Juden Wien. Ihr Ziel waren die Distrikte Radom und Lublin im Generalgouvernement. Die deportierten Jüdinnen und Juden wurden in den Städten Opole, Kielce, Modliborzyce, Lagów und Opatów ghettoisiert. Nach fünf Transporten hatte die Vorbereitung des Angriffs auf die Sowjetunion Vorrang vor dem Deportationsprogramm, mit dem Wien „judenfrei“ gemacht werden sollte und das bis zum Herbst 1941 ausgesetzt wurde. Für die Transporte nach Opole wurden die Deportierten im Sammellager in der Castellezgasse festgehalten und dann vom Aspangbahnhof in Wien abtransportiert.[7]

 

Im Vergleich zu den späteren Massendeportationen zwischen Oktober 1941 und Oktober 1942 hatten die Transporte nach Opole ein ungewöhnlich niedriges Durchschnittsalter von etwa 48 Jahren. Räumliche Analysen der letzten Wohnadressen von nach Opole Deportierten zeigen, dass zwei Drittel zu diesem Zeitpunkt bereits in Sammelwohnugen entlang des Donaukanals zwangsumgesiedelt worden waren. Eine Aufschlüsselung nach der Anzahl der Personen pro Wohnadresse lässt den Schluss zu, dass sehr oft ganze Familien zusammen deportiert wurden.[8] Dies wird durch eine Aktennotiz der Gestapo Wien vom 2. Februar 1941 bestätigt, in dem auch die Auswahl der Juden für die Deportationen im Februar und März 1941 besprochen wird: „Die Auswahl der für die Umsiedlung in das General-Gouvernement bestimmten Personen erfolgt von der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien familienweise.“[9] Die Israelitische Kultusgemeinde Wien musste sowohl für die Verpflegung der Sammellager als auch für die Transporte selbst aufkommen.[10]

Massenquartier Juden Jüdinnen Opole 1941 - Foto: DÖW 2454

Zusätzlich zu den Transporten aus Wien wurden bis März 1941 etwa 6000 Jüdinnen und Juden aus anderen polnischen Orten wie Wąwolnica, Puławy, Kazimierz Dolny und Józefów in das Ghetto Opole deportiert, wodurch sich die Zahl der jüdischen Bevölkerung im Ghetto auf ca. 10.000 erhöhte. In Opole wurden die Neuankömmlinge mit der bitteren Armut der polnischen jüdischen Bevölkerung unter der Naziherrschaft konfrontiert: Kälte, Hunger, Unterbringung in Massenquartieren und unhaltbare sanitäre Zustände vermittelten das Gefühl, aus der Zivilisation vertrieben worden zu sein, wie Briefe österreichischer Jüdinnen und Juden dokumentieren. So schilderte die 20-jährige Charlotte Schönfeld, die zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Kurt am 15. Februar 1941 deportiert worden war, in einem Brief an ihren Freund Rudi ihre ersten Eindrücke von Opole: „Nach zweitägiger Fahrt sind wir endlich in einem Drecknest angekommen. Hier ist es eiskalt, kein Essen, keine Verdienstmöglichkeiten, kein Licht, also einfach furchtbar. [...] Wir schlafen hier auf einem Dachboden auf Stroh, also mit einem Wort, die Castellezg. [Sammellager Castellezgasse] war ein Paradies. Wir haben schon Kurts Winterrock verkaufen müssen, da wir ohne Groschen Geld dastehen. [...]“[11]

Das Ghetto befand sich zwischen den Straßen Nowa, Ogrodowa und Nowy Rynek. Ursprünglich war es nur durch Drahtverhaue von den anderen Stadtteilen getrennt, erst später wurden diese durch einen Holzzaun ersetzt. Innerhalb des Ghettos war die Bewegungsfreiheit der Häftlinge nicht eingeschränkt, aber das Verlassen von Opole ohne offizielle Erlaubnis war unter Androhung schwerer Strafen verboten. Vor allem im Jahr 1941 flohen jedoch mehrere Dutzende österreichische Juden aus dem Ghetto, von denen viele – wie auch Selma Jakobovitz – nach Wien zurückkehrten. Der Großteil dieser Menschen wurde im Zuge der späteren Massendeportationen zwischen Oktober 1941 und Oktober 1942 erneut verschleppt.[12]

Aufgrund der unzureichenden Lebensmittelversorgung und der schlechten Unterbringung stieg die Sterblichkeitsrate im Ghetto Opole rapide an. Bis Anfang April 1941 starben bereits 30 der aus Wien deportierten Menschen.[13] Laut Tätigkeitsbericht der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe vom 13. Februar 1942 starben im Laufe des Jahres 1941 18,8 % der Vorkriegsbewohner, 21,4 % der Deportierten aus Wien und 24 % der Deportierten aus dem Generalgouvernement.

Ab Mai 1941 wurden rund 800 arbeitsfähige Männer aus dem Ghetto Opole als Zwangsarbeiter in Deblin eingesetzt, darunter etwa 100 österreichische Deportierte.[14] Die Liquidierung des Ghettos Opole begann im Frühjahr 1942. Am 31. März 1942 wurde ein Transport in das Vernichtungslager Bełżec geschickt. Deportationen in das Vernichtungslager Sobibor folgten im Mai und Oktober 1942.

 

Neben kurzen Beschreibungen der Verfolgungsorte sowie statistischen Auswertungen aus den Opferdatenbanken soll das Handbuch auch Kurzbiographien beinhalten, um das Schicksal der deportierten österreichischen Jüdinnen und Juden wie jenes der eingangs beschriebenen Selma Jakobovitz in den Mittelpunkt zu rücken.



[1] Opferdatenbank des DÖW.

[2] Geburtsmatriken der IKG Wien.

[3] Adolph Lehmann's allgemeiner Wohnungs-Anzeiger 1938.

[4] Auswanderungsfragebogen Riven Jakobovitz recte Adler Nr. 37201. Archiv der IKG Wien, A/W 2589,94.

[5] Opferdatenbank des DÖW.

[6] KZ-Verbandsakt Selma Jakobovitz recte Adler. DÖW 20.100/5008

[7] Siehe dazu ausführlich: Dieter J. Hecht, Michaela Raggam-Blesch, Heidemarie Uhl (Hg.), Letzte Orte. Die Wiener Sammellager und die Deportationen 1941/42. Wien 2019.

[8] Opferdatenbanken des DÖW.

[9] Aktennotiz über die Vorsprache des gefertigten Leiters der isr. Kultusgemeinde Wien in der Geheimen Staatspolizei bei Herrn Reg.Rat Dr. EBNER in Anwesenheit des Herrn SS O’Stuf. BRUNNER, am 1. Februar 1941, 12 Uhr mittags. DÖW 2526.

[10] Ibidem.

[11] Brief von Charlotte Schönfeld aus Opole vom Februar/März 1941 nach Wien. DÖW 22.068.

[12] Vgl. Opferdatenbank des DÖW.

[13] Liste der vom 28.2. bis 9.4. in Opole verstorbenen aus Wien evakuierten Glaubensjuden. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2751.

[14] Florian Freund, Hans Safrian, Vertreibung und Ermordung. Zum Schicksal der österreichischen Juden 1938-1945. Das Projekt „Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer“ (DÖW). Wien 1993, S. 21.


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