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Albert Sternfeld: Orthodox-jüdische Kinder aus Wien

Albert Sternfeld, geb. 1925 in Wien. 1938 mit Kindertransport nach Großbritannien, 1940 nach Palästina, wo er seine Eltern wieder traf. 1943 zur britischen Armee, in Ägypten Mitglied des "Free Austrian Movement". In Israel Mithilfe beim Aufbau der israelischen Luftwaffe.

1966 Rückkehr nach Wien. Leitende Position in der Versicherungsbranche. Initiator von Restitutionsabkommen und Entschädigungsleistungen für die "Ex-38er" (ab 1938 aus Österreich vertriebene Jüdinnen und Juden). Mitglied des Kuratoriums des DÖW. Publizistische Tätigkeit, u. a. "Betrifft: Österreich. Von Österreich betroffen" (Böhlau 1990, 2. aktual und erw. Aufl. 2001).

Verstorben 2007.

 

 

Die jüdische Volks- und Hauptschule, die ich besuchte, wurde bereits in der Woche nach dem 13. März 1938 von den Behörden geschlossen. Mehrere Wochen gab es überhaupt keinen Unterricht. Im Sommer 1938, während der Ferien, wurde ein Ausweichlokal gefunden und mit denjenigen Lehrern, die noch übrig geblieben waren, eine Art Behelfsunterricht bis in den Herbst 1938 hinein durchgeführt. Dann wurde diese Schule auch geschlossen, ein weiterer Unterricht fand nicht statt. […]

 

Zur ersten Phase der Auswanderungsperiode: Bekanntlich ist etwa Mai/Juni [1938] die organisierte Auswanderung angelaufen. Die "Zentralstelle für jüdische Auswanderung" war in der Prinz Eugen-Straße 22. Es hat sich ziemlich bald, etwa im Frühsommer 1938, herauskristallisiert, dass die Nationalsozialisten Kinder und Jugendliche relativ leicht und ohne Schwierigkeiten auswandern lassen hatten, während Erwachsenen, insbesondere wenn sie zu den Besitzenden gehörten, große Schwierigkeiten gemacht wurden. Es ging, wie man heute viel klarer weiß, darum, sich in den Besitz der Geschäfte, Praktiken und sonstigen Vermögen zu setzen. Es wurde die Auswanderung von Kindern nicht nur von der nationalsozialistischen Seite und ihren Behörden erleichtert, sondern auch von der anderen Seite - den Einwanderungsländern. Es haben nicht nur die Regierungen, sondern auch zahlreiche Organisationen der Einwanderung von Kindern und Jugendlichen viel weniger Schwierigkeiten entgegengesetzt als bei Erwachsenen. In anderen Ländern haben Organisationen bereits im Frühjahr 1938 angefangen, Hilfsmaßnahmen zu ergreifen. Bei den jüdischen Organisationen hat das dann so ausgesehen, dass etwa die zionistischen Revisionisten [militante zionistische Gruppierung], deren es in Österreich eine Anzahl gab, sich mit ihren Parallelorganisationen im damaligen Palästina in Verbindung setzten. Zionistischsozialistische Gruppen hatten ihre Freunde in Palästina, ebenso wie Sozialisten, die nicht aus "rassischen" Gründen wegmussten oder wollten, in anderen Ländern ihre Kontakte hatten und von dort Hilfe erhielten.

 

Im Fall meiner Person und der jungen Leute der jüdischen Volks- und Hauptschule, die ihrerseits einer religiösen Splittergruppe der jüdischen Wiener Gemeinde angehörten, gab es in London eine Parallelorganisation, die Agudas Israel, geleitet von Rabbiner Salomon Schönfeld. Dieser Mann hatte mehrere Bethäuser unter sich gehabt, Kindergärten, Volks- und Hauptschulen und dergleichen mehr. Man kann heute ruhig sagen, dass dieser Mann als Einzelperson wohl mehr geleistet hat als jeder andere. Er hat viele hunderte jüdische Jugendliche und Kinder zuerst aus Deutschland und dann aus Österreich und später aus Ungarn und aus der Tschechoslowakei durch seinen persönlichen Einsatz, organisatorischer und finanzieller Natur, nach England gebracht und auch dort untergebracht. Im Spätsommer kursierte die Nachricht, dass diese Organisation eben orthodox-jüdische Kinder aus Wien nach England bringen würde. Mein älterer Bruder wurde bereits im September 1938 auf diese Weise nach England gebracht, als Theologiestudent, das waren die so genannten Jeschiwa-Studenten.

 

Am 21. Dezember 1938 ging der erste Transport von - nach meiner Erinnerung - 180 Kindern, ausschließlich aus dieser Schule in Wien, in einem geschlossenen Waggon von Wien-Westbahnhof ab, quer durch Deutschland bis Rotterdamm, wo übernachtet wurde, Einschiffung in Hoek van Holland, Überfahrt nach Harwich, Ankunft in London am Abend des 23. Dezember.

 

Alles bestens organisiert. Die Kinder wurden zum großen Teil noch am selben Abend bei jüdischen Familien orthodoxer Prägung, meist in Nordlondon, Gegend Stamford Hill, Clapton, Stoke, Newington, untergebracht. Nach den Weihnachtsferien, etwa Mitte Jänner 1939, wurden die meisten von uns in die Jewish Secondary School, damals in Amhurst Park, London, eingeschult. Die meisten von uns konnten kein oder wenig Englisch. Wir wurden sehr, sehr freundschaftlich von allen aufgenommen. Die Schülerschaft von etwa 500 Kindern bestand zu etwa vierzig, fünfzig Prozent aus jüdisch-englischen Kindern. Etwa die Hälfte war aus Deutschland ab 1934/35 eingewandert. Wir, die Wiener, waren die letzte Gruppe und wurden im Sommer 1939 durch weitere ungarische und tschechische Flüchtlingskinder ergänzt.

 

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