Otto Snyder, geb. als Otto Schneider 1910 in Wien als Sohn einer assimilierten jüdischen Familie, Mitglied des Verbands Sozialistischer Mittelschüler und des Republikanischen Schutzbundes, im elterlichen Herrenwäschegeschäft tätig. Nach dem "Anschluss" 1938 Flucht über Kuba in die USA.
Dann haben die großen Schwierigkeiten angefangen: Wie kommt man heraus? In der ersten Woche haben wir gesagt: "Na, wir werden sehen, wie es weitergeht." Dann haben wir gesehen, wie die Juden schikaniert wurden, und wollten nur mehr weg.
Wir alle wollten raus, aber die Hauptsache war natürlich, die Jungen hinauszukriegen. Die Frau von meinem Bruder war Tschechin, und ihre beste Freundin ist zwei Jahre vor dem "Anschluss" mit ihrer Familie plötzlich nach New York gefahren. Die haben eine große Villa im 19. Bezirk gehabt, sie waren auch Juden. Eines Tages haben sie uns angerufen, dass sie alles verkauft haben und nach New York fahren. Sie haben meinem Bruder sofort ein Affidavit geschickt. Aber mein Bruder und seine Frau wollten die Eltern nicht hier allein lassen. Innerhalb einer Woche nach dem "Anschluss" haben sie die Nachricht bekommen, dass das Affidavit erneuert wurde und dass sie sofort fahren sollen. Sie sind dann Anfang April 1938 auf der "Queen Mary" mit allem, was sie hatten, nach Amerika gefahren. [...]
Wie mein Bruder weggefahren ist, da waren die Kontrollen noch nicht so organisiert, und er hat alles, was er besaß, was nicht sehr viel war, aber seine ganze Wäsche und ein paar Möbelstücke, mitgenommen. In Amerika versuchte er sofort, mich hinüberzuholen. Er hat mir ein Affidavit verschafft, aber meine Quotennummer war zu hoch, die Quote für 1938 war erschöpft.
Meine Freundin, die in der Leopoldsgasse im orthodox-jüdischen Waisenhaus aufgewachsen war, hat ihren Posten auch innerhalb von drei oder vier Tagen verloren. Sie war Buchhalterin in einer großen Firma, und auf einmal haben ihre Kolleginnen erklärt, dass sie mit einer Jüdin nicht arbeiten wollen, und meine Freundin wurde gekündigt. Ihr Chef war Jude und ist auch enteignet worden. Sie hat aber in einer alten Korrespondenz einen Bruder ihres verstorbenen Vaters in Amerika gefunden und hat ihm geschrieben. Er hat ihr ein Affidavit geschickt, und sie ist Ende Oktober 1938 nach Amerika gefahren.
Ich hatte keinen Pass, den hatten sie mir ja gestohlen. Das war aber ein unerwarteter Vorteil. Mein Bruder hat mir mit viel Geld und viel Mühe Schiffskarten einer italienischen Schiffslinie von Genua nach Havanna [Kuba] verschafft und mir in New York ein Einreisepermit für Havanna gekauft. Das war möglich. Fünfhundert Dollar hat ein Rechtsanwalt in New York dafür genommen, zweihundert sind nach Kuba gegangen. Hundert hat der Mittelsmann in Kuba eingesteckt, und hundert sind an die Beamten der Einwanderungsagentur in Kuba gegangen. Mein Bruder hat das Geld von seinem Chef ausgeborgt und hat mir so die Einreise ermöglicht. In Wien haben wir dann die Bahnkarten von Wien nach Berlin, die Flugkarten von Berlin nach Kopenhagen, die Bahnkarten von Kopenhagen nach Esbjerg an der Westküste von Dänemark, die Schiffskarten von Esbjerg nach Antwerpen und die Bahnkarten von Antwerpen über Paris nach Genua gekauft. Ich musste so fahren, weil in Italien die Bestimmung galt, dass jüdische Auswanderer nur zehn Tage vor Schiffsabfahrt von Österreich nach Italien einwandern durften. Ich habe vom Heeresministerium, vom Militärkommando in Wien, eine vorgeschriebene Ausreisebewilligung bekommen. Das Formular hat gelautet: "Gegen die Ausreise des Otto Schneider ist nichts einzuwenden. Diese Erlaubnis läuft am 30. September 1938 ab." Ich habe den Leutnant, der da gesessen ist, gefragt: "Wo kann ich mir eine Verlängerung holen?" Sagt er: "Blöder Jud', wenn du am 30. September nicht draußen bist, holt dich die Polizei ab, die kriegt eine Kopie davon."
Ich wusste, dass das Schiff erst später geht, und musste raus, nach Italien konnte ich aber nicht.
Andererseits konnte ich mir in Wien keine Durchreisevisen für Belgien und Frankreich verschaffen, die haben sie nicht mehr ausgegeben. Ich habe aber genug Reiseerfahrung gehabt, um mir ausrechnen zu können, dass ich mir die Durchreisevisen vielleicht in Dänemark verschaffen könnte. Nach Dänemark wollte ich über Berlin gelangen. [...]
Bis zu meiner Ausreise lebte ich wie in einem Vakuum. Kino durfte man nicht besuchen, Kaffehäuser ebenfalls nicht. Plakate mit dem Wortlaut: "Aussätzigen, Hunden und Juden Eintritt verboten!" waren keine Seltenheit. Auf vielen Parkbänken durfte man nicht sitzen, mein Faltboot, mein Fahrrad konnte ich nicht mehr verwenden. Den Juden war der Wienerwald und die Donau verboten. Es war wirklich ein Vakuum. Man hat im Kreise seiner engsten Familie gelebt, denn man hat sich auch nicht getraut auszugehen.
Wir haben das Geschäft noch mit einem kommissarischen Verwalter weitergeführt, der war ein anständiger Kerl. Er ist in der Früh gekommen, hat geschaut, was los ist, ist am Abend wiedergekommen, hat die Kassa ziemlich geleert, aber er hat uns immerhin Geld für den Lebensunterhalt gelassen. [...]
Uns gegenüber war ein jüdisches Restaurant, da haben sie zu Mittag die Gäste herausgeholt, haben ihnen Farbe übers Gesicht geschmiert und haben alle Fenster des Restaurants verschmiert. Ebenfalls gegenüber war noch ein Kerzen- und Seifengeschäft, der Löwinger, dem haben sie auch das Geschäft angeschmiert, das war ja gang und gäbe in der ganzen Gasse. Eines Tages erhielten wir in der Früh einen Telefonanruf: "Der junge Herr Schneider täte gut, wenn er heute nicht zu Hause wäre." Dann wurde abgehängt. Ich habe mich angezogen, habe mir etwas Geld eingesteckt, viel war ja nicht mehr da, und habe den Tag in der Straßenbahn und Stadtbahn verbracht. Ich bin ganz einfach herumgefahren, denn ich hab' nicht gewusst, wo ich hingehen könnte, wo ich sicher wäre, ich habe ja nicht gewusst, was los ist. Wie ich dann am Abend nach Hause gekommen bin, habe ich herausgefunden, dass während des Vormittags die jüdischen Männer aus den Wohnungen und Geschäften der Stumpergasse herausgeholt und zum Aufreiben gezwungen worden sind. Sie haben einige Lastfahrzeuge von der SA in die Straße gebracht, und die Leute mussten diese Fahrzeuge putzen. Einem von den Jungen, dessen Vater auch geholt wurde, haben sie einen Schlauch in die Hand gegeben und haben ihn gezwungen, seinen Vater, der unter einem Auto gelegen ist und es geputzt hat, anzuspritzen. Er hat sich geweigert, dann haben sie ihn durchgehauen und abgeführt. Ich weiß nicht, was mit ihm geschehen ist. Der alte Herr war herzleidend, und ich weiß nicht, ob er's überstanden hat oder nicht. Aber, wie gesagt, das ist während des Tages passiert. Wer uns angerufen hat, ist bis heute ungeklärt geblieben, aber es hat Leute gegeben, die uns in dieser Art und Weise unterstützt haben.
Ich hatte einen jüdischen Schulkollegen, der mittlerweile sein Rechtsanwaltsstudium beendet hatte. Irgendwie hatte er Verbindungen zur Polizei und zum Passamt gehabt, und der hat mir dann für gutes Geld einen deutschen Reisepass verschafft, schon mit dem "J" und dem "Israel" drin. Ich bin zum Herrn Meinl gegangen, der damals dänischer Generalkonsul in Wien war, und hab' ihn gefragt, ob er mir eine Einreise nach Dänemark verschaffen könnte. Er hat gesagt: "Nein, ich kann da nichts tun." Ich habe aber herausgefunden, dass man mit einem deutschen Reisepass kein dänisches Visum braucht, während man mit einem österreichischen Pass ein Visum gebraucht hätte. Das war der Gefallen, den die mir getan hatten, als sie mir den österreichischen Pass gestohlen hatten, denn dadurch bekam ich einen deutschen Pass.