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Das DÖW trauert um Mara Kraus-Ginić

Ein Nachruf von Winfried Garscha

Mara Kraus-Ginić musste über das Matterhorn vor den Nazis flüchten, fand viele neue Heimaten und vermittelte ihr Wissen fließend in fünf Sprachen. Sie schrieb Bücher, fertigte tausende Fotos an, katalogisierte Fotosammlungen und engagierte sich als Ehrenamtliche im DÖW. Mitte Juli ist Mara Kraus-Ginić im 100. Lebensjahr verstorben.

Foto: Ulrike Garscha
Foto: Ulrike Garscha

Am 14. Juli starb Mara Kraus, die älteste ehrenamtliche Mitarbeiterin des DÖW, im Alter von 99 Jahren. Bis zum Ausbruch der Covid-Pandemie war Mara noch regelmäßig ins DÖW gekommen, um an der Katalogisierung serbokroatischer, italienischer und portugiesischer Dokumente und Broschüren mitzuwirken und deren Inhalt auf Deutsch zusammenzufassen. Davor hatte sie als ehrenamtliche Mitarbeiterin den Nachlass ihres Lebensgefährten Joe Heydecker, insbesondere dessen umfangreiches Fotoarchiv, in der Nationalbibliothek aufgearbeitet. Mara war auch schriftstellerisch tätig. Ihre letzte Publikation – Erzählungen mit dem Titel „Das Bett in der Badewanne“ erschien 2023.

Mara Kraus wurde am 18. Februar 1925 als Mara Goldstein in Zagreb geboren. Die Vorfahren ihres Vaters Ernst Goldstein waren aus Galizien in das damals zum Königreich Ungarn gehörende Slawonien gekommen – nach Našice, westlich von Osijek. Ihr Großvater Adolf hatte dort mit seiner Frau Johanna ein Geschäft für Eisenwaren wie Sensen und Sicheln aufgebaut. Die Großeltern hatten ihrem Sohn Ernst ermöglicht, in Paris, Frankfurt und Wien zu studieren. In Wien lernte er nach dem Ersten Weltkrieg eine Tschechin, Hansi Čtvrtník, kennen – die spätere Mutter Maras. Sie trat zum Judentum über, gemeinsam übersiedelten sie nach Jugoslawien. Auf dem Weg nach Zagreb heirateten sie in der Synagoge in Graz.


1929 übersiedelte die Familie nach Osijek an der Drau, den Hauptort Slawoniens. Als Mara fünf Jahre alt war, ließen sich die Eltern scheiden. 1933 zog ihr Vater nach Belgrad und änderte seinen Namen auf Alexander Ginić. Maras Schulunterricht begann noch im gemischtsprachigen Osijek, wo Kroatisch, Deutsch und Ungarisch gesprochen wurde. Ab der zweiten Klasse ging sie in Belgrad zur Schule, wo sie zum zweiten Mal schreiben lernen musste – in Serbien wird das Serbokroatische mit kyrillischen Buchstaben geschrieben. Ab der dritten Klasse besuchte sie die französische Schule. Serbokroatisch, Deutsch und Französisch waren somit ihre ersten Sprachen, später kamen noch Italienisch dazu (die Sprache, in der sie sich am besten „zu Hause“ fühlte und in der sie später mit ihren beiden Kindern kommunizierte) und das brasilianisches Portugiesisch.

Biografie vieler Neubeginne
Mara war noch ein Kind, als sich die Eltern scheiden ließen. Die Eltern zogen später wieder zusammen. 1936 starb Maras Großmutter Johanna Goldstein, die zur Behandlung ihrer Krebserkrankung nach Wien übersiedelt war. Sie wurde im neuen jüdischen Friedhof (Zentralfriedhof, Tor 4) beigesetzt, wo am 15. Juli 2024 auch Mara beerdigt wurde.


Nach dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf Jugoslawien 1941 versuchte Maras Vater zuerst noch, sich als Kaufmann im besetzten Belgrad zu behaupten, musste aber bald flüchten – zunächst nach Kroatien, wo die faschistische Ustaša regierte. Alexander Ginić besorgte sich gefälschte Papiere, die ihn als katholischen Kroaten auswiesen. Schließlich gelang es Vater und Tochter, über die Insel Hvar und das italienisch besetzte Split nach Italien zu flüchteten, wo sie im Piemont interniert wurden. Dort lernte Mara Ivo Kraus, ihren späteren Mann, kennen. 1943 gelang ihnen – über den Matterhorn-Gletscher – die Flucht in die Schweiz.


Unter dem Titel „Der talentierte Herr Ginić. Eine Familie überlebt den Holocaust“ veröffentliche Mara als 92-Jährige eine Biografie ihres Vaters, in der sie auch ihre Kindheit und Jugend schilderte. Den Inhalt des Buchs fasste sie so zusammen: „Mein Urahn stammte aus dem ärmsten Winkel der österreichisch-ungarischen Monarchie. Mit einem Ranzen machte er sich auf die Suche nach einer besseren Existenz. Seine Nachkommen stiegen ins Bürgertum auf, kamen zu Wohlstand, sie überwanden Wirtschafts- und Ehekrisen und fingen immer wieder von Neuem an bis zu dem Zeitpunkt, als sie, nur noch mit einem Ranzen, um ihr Leben liefen.“


1945 kehrte der Vater nach Jugoslawien zurück, Mara und Ivo heirateten und übersiedelten nach Italien. Von Italien aus emigrierte das Ehepaar mehrfach nach Südamerika – 1948 bis 1950 nach Argentinien, 1955 für sieben Monate nach Venezuela, wohin Maras Vater nach seiner Flucht aus Jugoslawien ausgewandert war, und 1968 schließlich nach São Paulo in Brasilien. 1972 trennten sich Mara und Ivo. In São Paulo lernte Mara Joe Heydecker kennen, einen deutschen Publizisten und Fotografen, der im Warschauer Ghetto illegale Aufnahmen angefertigt und 1945/46 über den Nürnberger Prozess berichtet hatte. Er hatte 1960 Deutschland verlassen, weil kein deutscher Verlag bereit war, sein Buch über das Warschauer Ghetto zu veröffentlichen (nur eine italienische Ausgabe konnte erscheinen). 1986 entschlossen sich Joe Heydecker und Mara Kraus, nach Europa zurückzukehren. Deutschland kam für Joe Heydecker nicht in Frage, wegen Maras brasilianischen Passes war eine Übersiedlung in die Schweiz ausgeschlossen. Deshalb zogen die beiden nach Wien. Maras Sohn und Tochter blieben in den USA, wohin sie zum Studium übersiedelt waren.

In der Nationalbibliothek und im DÖW
Erst 1999, nach Joe Heydeckers Tod, erschien „Das Warschauer Ghetto. Fotodokumente eines deutschen Soldaten aus dem Jahr 1941“. Die Publikation seiner Kriegserinnerungen in einem österreichischen Verlag erlebte er noch: „Mein Krieg. 6 Jahre in Hitlers Wehrmacht. Bericht eines Zeitzeugen“ erschien 1993. 2010 wurde eine zweite Auflage publiziert. Bereits 2002 war eine italienische Fassung, 2009 eine polnische Übersetzung mit einem Vorwort von Władysław Bartoszewski erschienen. Um all diese Publikationen hat Mara sich mit Umsicht und Sachverstand gekümmert. Ihr Hauptanliegen war es aber, die umfangreiche Fotosammlung Joe Heydeckers, die sie der Österreichischen Nationalbibliothek vermacht hatte, zu ordnen und zu katalogisieren. 2013, als diese Arbeit sich dem Ende zuneigte, begann sie, ehrenamtlich im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes zu arbeiten.


Unterstützt durch Joe Heydecker hat Mara Kraus tausende Fotografien angefertigt. Ab 8. März 2023 hat die Volkshochschule Hietzing eine Auswahl davon gezeigt. Über diese späte Würdigung durch VHS-Direktor Robert Streibel hat sie sich sehr gefreut. Am 7. September 2023 hat Mara der stellvertretenden Geschäftsführerin von „erinnern.at“, Victoria Kumar, für die Sammlung „weiter_erzählen“ ein mehr als zweieinhalbstündiges Interview gegeben, das als Video aufgenommen und hier angesehen werden kann.


Erstaunlich für alle, die Mara kannten, war ihre Vitalität, die sie bis ins hohe Alter wesentlich jünger aussehen ließ als sie tatsächlich war. 2018 warb die Fitnessfirma „Kieser Training“ auf ihrer Website mit einem Bild der 93-Jährigen und ihrem Ausspruch: „Viele gehen mit 70 normal, mit 80 am Rollator bis dann gar nichts mehr geht. Da strenge ich mich lieber an. Ich kann das Training nur jedem älteren Menschen empfehlen.“ Als das DÖW am 12. Jänner 2024 seinen 60. Gründungstag im Stadtkino im Künstlerhaus beging, war Mara dabei. Bei einem Podiumsgespräch auf der Bühne erzählte sie aus ihrem Leben, es war ihr letzter öffentlicher Auftritt.

 

 


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