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Unentbehrlich und utopisch

Die politische Autonomie der Wissenschaften

Rede von Andreas Kranebitter zur Verleihung der Theodor-Körner-Preise am 13.6.2024

 

In seiner Rede spricht DÖW-Leiter Andreas Kranebitter über das Verhältnis von Sozialwissenschaften und Demokratie, die autoritäre Wende und die Angriffe der FPÖ.

 

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Frau Beiratsvorsitzende, sehr geehrte Damen und Herren und vor allem: liebe Preisträgerinnen und Preisträger!

Ich möchte Ihnen, den Preisträgerinnen und Preisträgern, zuerst ganz herzlich gratulieren, deren Projekte, wie die Beiratsvorsitzende zu Recht hervorgehoben hat, verantwortungsvolle Wissenschaft und engagierte Kunst verdeutlichen. Über all das, Verantwortung, Engagement und Wissenschaft, will ich heute reden, wobei ich mich vor allem auf die Sozial- und Geisteswissenschaften, die humanities beziehen werde. Denken Sie Ihr Fachgebiet selbst mit oder fühlen Sie sich mitgemeint, jedenfalls gewertschätzt. Ich möchte in fünf Kapiteln voranschreiten.

 

Das politische Private

 

Andreas Kranebitter bei der Verleihung der Theodor-Körner-Preise am 13. Juni 2024. Foto: Theodor Körner Fonds, Christopher Glanzl

Foto: Theodor Körner Fonds, Christopher Glanzl

Wir alle haben in der Corona-Pandemie unsere persönlichen Beobachtungen gemacht. Ich für meinen Teil werde nicht vergessen, Zeuge eines erbitterten Streits zwischen zwei Männern im ersten Lockdown 2020 geworden zu sein. Der eine stand im Ausgangsbereich eines Supermarkts, demonstrativ ohne Maske, und begann, ein Stieleis aufzureißen. Der andere, Ältere, kam aus dem Supermarkt und riss die Augen auf. Die Mischung war explosiv, das Gespräch in wenigen Sekunden von 0 auf 100 – der Ältere forderte schließlich schweren Kerker für den Eisfrevler, der Jüngere rief, der Blockwart möge krepieren.

Ich weiß nichts über die beiden und habe sie nach ihrer Begegnung nicht getrennt voneinander befragt. Beide verkörpern für mich aber idealtypisch zwei Formen des Autoritarismus, die sich in der Krise noch deutlicher zeigen. Zugespitzt: Die eine privilegierte, unsolidarische, pseudorebellische Auflehnung gegen eine vermeintlich von oben dekretierte Unfreiheit, die andere ein rigides Festhalten an inhaltlich egal welchen Konventionen, deren Geltung mit aller Härte durchgesetzt werden müsse.


Beide Typen haben im Normalfall auch ein problematisches Verhältnis zur Wissenschaft: Der eine folgt einer abergläubischen Wissenschaftsfeindlichkeit, glaubt an mystische Einflussfaktoren auf individuelle Schicksale jenseits wissenschaftlicher Erklärungen. Der andere akzeptiert unmittelbar und unhinterfragt das Gegebene in geradezu magischem Glauben an die Wissenschaft.


Wir kennen diese beiden Typen aus der Autoritarismusforschung: Die Leipziger Autoritarismus-Studie hat 2022 eine Gruppe an autoritären Impfgegner*innen ausgemacht, die die Bedrohung projektiv verleugnet und in Bezug auf antidemokratische Einstellungen, Ethnozentrismus und Antisemitismus signifikant höherer Zustimmungsraten aufwies. Sie hat aber auch eine Gruppe an, wie sie sie nennt, „autoritär Geimpften“ ausgemacht, die sich durch ein Klammern an die wissenschaftliche und staatliche Autorität als „Prothesensicherheit“ auszeichne. Schon die Autor*innen der berühmten Studie „The Authoritarian Personality“ aus dem Jahr 1950, von denen Theodor W. Adorno weit bekannter ist als seine aus Österreich vertriebene kongeniale Mitautorin Else Frenkel-Brunswik, kannten beide Typen. Ich zitiere: „Die Unfähigkeit, Dinge zu ‚hinterfragen‘ und das Bedürfnis nach eindeutigen und dogmatischen Antworten […] führt entweder zu einer leichten Akzeptanz stereotyper […] Antworten […] oder zu einer explizit antiwissenschaftlichen Haltung.“ Im einen Fall wird blind geglaubt, im anderen wütend bezweifelt.

Beide Typen stellen uns als Wissenschaftler*innen vor große Herausforderungen: Meine sehr geehrten Damen und Herren, Wissenschaft in Zeiten des Autoritarismus ist eine Kunst.

 

Sozialwissenschaft ist ein Kampfsport

 

Gute sozialwissenschaftliche Forschungspraxis kann nicht nur einer abstrakten Methodologie folgen. Sie besteht aus zahlreichen Kunstgriffen, soft skills der Forschenden, die sie sich durch praktische Arbeit aneignen müssen: Wie sucht man Themen, wie geht man mit übernommenen Begriffen um, wie flexibel handhabt man seinen Interviewleitfaden, wie geht man psychologisch mit der Übertragung und Gegenübertragung im Feld um, wie behandelt man die Daten seines Datensatzes und seine missing values, wie reflektiert man die Art der Quellen und ihre inhärenten Perspektiven und Leerstellen, wie bleibt man innovativ und kreativ und doch methodisch kontrolliert?

 

Sozialwissenschaft ist harte Arbeit, ein Spiel von Nähe und Distanz zu Auftraggeber und Forschungsobjekt. Soziologie ist ein Kampfsport, hat Pierre Bourdieu einmal polemisch behauptet. Was er damit gemeint hat? Sozialwissenschaft muss sich mit Alltagsbegrifflichkeiten anlegen, dem common sense. Sie muss auch, könnte man in der Sprache der älteren kritischen Theorie hinzufügen, mit den staatlich dekretierten Begrifflichkeiten ihrer Auftraggeber brechen. Andernfalls bleibt sie empiristische „Fliegenbeinzählerei“, nimmt subjektive Äußerungen der Menschen für bare Münze und gibt sie fragebogenverformt als objektive Erkenntnis aus, dient sich als administrative Auftragsforschung der Macht an und verdoppelt mit all dem bloß die gegebene Welt, die sie für ewig und unabänderlich hält.

 

Sozialwissenschaft muss also damit brechen, einen „epistemologischen Bruch“ herbeiführen, um Wissenschaft genannt werden zu können. Konkreter: einen „doppelten Bruch“. Ich zitiere Bourdieu: „Die Naivität ersten Grades, die darin besteht, die ideale oder idealisierte Selbstdarstellung der symbolischen Mächte (Staat, Recht, Kunst, Wissenschaft) zu akzeptieren, ruft in gewisser Weise eine Naivität zweiten Grades auf den Plan, die jener ‚Halbschlauen‘, […] die sich kein X für ein U vormachen lassen wollen.

 

Unsere zwei anfangs geschilderten Typen, den Blockwart und den Pseudorebellen, gibt es – in ganz anderer Form – auch in den Sozialwissenschaften: als naiven, spontanen Positivismus, der die Kategorien von Staat und Macht unreflektiert übernimmt, und als spontanen Antipositivismus, als Moralismus und antiwissenschaftliche Theorie. Wir müssen beides selbstreflexiv und selbstkritisch überwinden: Der doppelte Bruch ist der Bruch mit der Idealvorstellung vom heiligen Wissenschaftler und der Bruch mit der naiven Kritik an der Wissenschaftlichkeit.

 

Sozialwissenschaftliche Arbeit ist insofern politisch, als sie Wissenschaftsfeindlichkeit als lustbetonte Absage an Fakten ebenso bekämpft wie ein ängstliches Festhalten an staatlich vorgegebenen Kategorien.

 

Gute Sozialwissenschaft fotografiert wie mit einer Kamera ein Gebäude aus verschiedenen Perspektiven – und reflektiert dabei ihre Kameraeinstellungen, legt ihren eigenen Standpunkt, ihre Perspektive offen.

 

Gute sozialwissenschaftliche Arbeit braucht Ruhe, Kreativität und Imagination, Methoden, die sie nicht als Gebrauchsanweisungen und Kochrezepte, sondern mit sozialwissenschaftlicher Intuition verwendet.

 

Sozialwissenschaft ist damit auch offen und gedeiht nur in demokratischen Gesellschaften, die ein relativ autonomes Feld der Wissenschaft zulassen. Diese Offenheit ist politisch angreifbar – und sie wird politisch angegriffen, zumal in Zeiten des Autoritarismus.

 

Neuer Autoritarismus

Andreas Kranebitter bei der Verleihung der Theodor-Körner-Preise am 13. Juni 2024. Foto: Theodor Körner Fonds, Christopher Glanzl

 

Foto: Theodor Körner Fonds, Christopher Glanzl

 

Politik ist nicht gleich Politik. Die autoritäre Wende, die wir gegenwärtig beobachten können, zwingt uns als Wissenschaftler*innen andere Verteidigungsstrategien auf als früher. Seit dem Kalten Krieg war wohl der stumme Zwang der wissenschaftlichen Verhältnisse nicht mehr so laut wie heute.

 

Der deutsch-britische Autor Ralf Dahrendorf schrieb 1997, inmitten des allseits ausgerufenen Endes der Geschichte: „Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert.“ Er wusste vermutlich nicht, wie schnell sich diese Prognose bewahrheiten sollte. Die Umfragedaten sollten ihm bald recht geben.

 

Gefühlte oder tatsächliche Bedrohungen werden im zunehmend autoritärer werdenden Kapitalismus als Kontrollverlust empfunden – einer Person über ihre Biografie, einer Gesellschaft über die soziale Ordnung. Menschen suchen nach Versprechen, diese Kontrolle, die Ordnung wiederherzustellen – durch Law and Order, durch Hierarchien, durch den sozialen Ausschluss der anderen. Wenn Krisen als bedrohliche Kontrollverluste erlebt werden, steigen autoritäre Aggressionen gegen vermeintlich schuldige Minderheiten, steigt das Bedürfnis nach Unterwerfung unter eine starke Hand, wird rigide an Althergebrachtem festgehalten, wird Wissenschaft angefeindet oder als Religion mystifiziert.

 

Autoritarismus ist nicht per se rechtsextrem. Er findet sich in allen politischen Lagern. Es gibt aber eindeutige politische Zusammenhänge. Wir wissen aus Umfragen, dass die Wissenschaftsfeindlichkeit mit Bildung, mit Schichtzugehörigkeit und eben mit politischer Ideologie korreliert – während im Durchschnitt 70 bis 80 Prozent der Befragten in Deutschland und Österreich angeben, der Wissenschaft zu vertrauen, sind es bei Befragten mit weit rechter Selbsteinschätzung gerade einmal 40 Prozent. Der Autoritarismus des 21. Jahrhunderts ist – erneut – ein Autoritarismus von rechts.

 

Seismograf und Barometer

Verzeihen Sie mir, wenn ich nun von dem Institut spreche, das ich die Ehre habe seit einem Jahr zu leiten. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes ist seit 60 Jahren eine Instanz in Österreich, die die verdrängten Kapitel dieses Landes thematisiert – allen voran Nationalsozialismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus. In unserem Fall kann man sagen, dass wir die Kamera ganz rechts aufstellen. Und da ist wenig überraschend, aber doch recht eigentümlich, dass sich das beobachtete Objekt nicht nur bewegt, sondern dem Kameramann geradezu ins Gesicht springt – wie ein Verkehrssünder, der sich beschwert, immer wieder in die Radarfalle zu rasen.

 

An vorderster Front steht in unserem Fall oft die FPÖ, stärkste Partei bei der gerade vergangenen EU-Wahl. Viele ihrer Funktionäre halten die Corona-Pandemie für einen von „globalistischen“ Eliten verfolgten Plan der Herstellung einer WHO-Diktatur, den Klimawandel für eine ökomarxistische Klimahysterie, jenseits des common senses – und das DÖW für eine staatlich geförderte „Privat-Stasi“, von der, ich zitiere FPÖ-Generalsekretär Christian Hafenecker, „der sogenannte Rechtsextremismus einfach erfunden [wird], um ihn weiter bekämpfen zu können. In Wahrheit handelt es sich um Patriotismus, der bei Heimathassern natürlich auf Widerstand stößt.“ Gäbe es das DÖW anders gesagt nicht, würde der Rechtsextremismus, etwa in Form der 40 in den letzten fünf Jahren ausgehobenen Waffenlagern, nicht existieren, sagt die FPÖ. Deshalb könne man das DÖW als pseudowissenschaftliche gesinnungsterroristische Tarnorganisation bezeichnen, sagt die FPÖ.

 

Dabei bezieht sie sich auf ein Gerichtsurteil aus den 1990er-Jahren. Damals wurden ähnliche Formulierungen strafrechtlich als Werturteile gewertet und nicht als üble Nachrede. Das Gericht hatte die Anwürfe nicht inhaltlich zu prüfen, wies aber auf zwei Punkte hin, die als Tatsachenbasis für Werturteile angesehen werden könnten: Die politikwissenschaftliche Rechtsextremismusdefinition des DÖW, auf über 100 Seiten aus der internationalen Autoritarismusforschung destilliert und im deutschsprachigen Raum Basis zahlreicher Analysen, sei „schwammig“. Und das DÖW sei einseitig, weil es auf der Seite der sogenannten Spanienkämpfer stehe. Dabei, so das Gericht, sei es „jedem zeithistorisch halbwegs versierten Menschen klar, daß die sogenannten ‚Spanienkämpfer‘ einseitig auf der Seite der marxistischen Partei im spanischen Bürgerkrieg kämpften.

 

Meine Damen und Herren, was da gerichtlich zur Debatte stand, war nicht weniger als die Frage, ob sozialwissenschaftliche Begriffe, weil nicht rechtlich kodifiziert, unwissenschaftlich sind, und ob der Standpunkt eines Instituts, das die Franco-Diktatur ablehnt, damit ein unwissenschaftlicher ist. Ich halte es für immens wichtig in aller Klarheit beides zu verneinen. Sozialwissenschaftliche Arbeit braucht wie gesagt eine debattierende Offenheit, und jeder Standpunkt ist politisch: Ja, das DÖW ist gegen Diktaturen, gegen Nationalsozialismus, gegen Rechtsextremismus und gegen Antisemitismus. Das macht unsere Arbeit aber nicht unwissenschaftlich.

 

Wir haben uns deshalb dazu entschlossen, Klage gegen die ewig gleichen Angriffe der FPÖ einzureichen, weil sich kein wissenschaftliches Institut gefallen lassen kann, pseudowissenschaftlich genannt zu werden. Wir führen diese Auseinandersetzung, Sie verzeihen das Pathos, im Namen der Wissenschaft. Denn was die FPÖ im Falle des DÖW tut, ist nur der Vorbote dessen, was sie mit anderen tun wird. Insofern sollte sich die Wissenschaft auch dafür interessieren, was hier zur Debatte steht.

 

Widerstand

 

Andreas Kranebitter bei der Verleihung der Theodor-Körner-Preise am 13. Juni 2024. Foto: Theodor Körner Fonds, Christopher Glanzl

Foto: Theodor Körner Fonds, Christopher Glanzl

 

Liebe Preisträgerinnen und Preisträger, ich möchte nicht mit finsteren Prognosen schließen. Ihnen möchte ich im Gegenteil Mut machen und sagen: Lassen Sie sich Ihre Lust am Forschen und Ihre Kreativität nicht nehmen, lassen Sie sich nicht kaufen und nicht einschüchtern, hängen Sie Ihre Eigen-Verantwortung nicht an den Nagel der Institutionen, halten Sie sie nicht mit Ethik-Boards und Formularen guter wissenschaftlicher Praxis für ad acta gelegt – und seien Sie auch ein bisschen widerständig. Setzen Sie ihre Forschung auch gegen autoritäre Anwürfe unbeirrt und unbeirrbar nach bestem Wissen und Gewissen fort, auch und gerade wenn man etwas riskiert – es ist letztlich eine Bestätigung der Richtigkeit und Wichtigkeit. Wenn der Raser permanent in die Radarfalle fährt, weiß man, dass man richtig misst.

 

Es ist nicht leicht, das alles in einer politisch von Macht und ihren Kämpfen durchzogenen Forschungspraxis zu tun, aber es ist notwendig – es ist utopisch, aber unentbehrlich.

 

Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes gratuliert allen Preisträger*innen sehr herzlich.

 



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