Hier finden Sie mit den Objekten des Monats unseren Neuzugang in der Dauerausstellung des DÖW. Monat für Monat werden wir Ihnen hier neue, unbekannte oder womöglich zu wenig beachtete Objekte und deren Geschichte aus unseren Sammlungen präsentieren. Hier erfahren Sie zudem die wichtigsten Hintergründe zu den Objekten und die Motive für deren Auswahl.
Broschüre „1938. Lüge und Wahrheit. Weder Opfer noch Schuld“ (1988)
Medieninhaber und Herausgeber: Aula-Verlag GmbH, Graz
Bis in die 1980er Jahre dominierte in Österreich die „Opferthese“. Österreich sei demnach das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen, erst im Zuge der Kandidatur Kurt Waldheims für das Amt des Bundespräsidenten bröckelte diese Erzählung auch in einer breiteren Öffentlichkeit. Eingefordert wurde, dass sich Österreich seiner historischen Verantwortung stellen müsse. Doch nicht jede Kritik an der Opferthese zielte in diese Richtung.
Manche, wie die Autoren der Broschüre „1938. Lüge und Wahrheit“, feierten den „Anschluss“ 1938, sie lehnten jede Verantwortung unter dem Titel „Weder Opfer noch Schuld“ ab. Die Broschüre wurde mit der Flugschrift „Der Anschluß 1938 – wie war es wirklich?“ nach eigenen Angaben in einer Gesamtauflage von 90.000 Stück produziert und an tausende Mittelschullehrer*innen versandt. Entsprechend ihrem jugendlichen Zielpublikum wurde die Broschüre „[i]n vielen Orten […] vor Schulen und an den Universitäten verteilt“,[1] so auch von der Burschenschaft Brixia an der Universität Innsbruck. Deren Mitglied Herwig Nachtmann, damals Obmann des Freiheitlichen Akademikerverbands Steiermark (FAV) und damit des Medieninhabers der Zeitschrift Aula, scheint im Impressum als federführender Vertreter einer nicht benannten Autorengemeinschaft auf. Die Aula selbst titelte im Jänner 1988: „Österreich 1938: Überfallen und vergewaltigt? Die Opfertheorie am Ende“.
Die Broschüre dient dem Zweck, die Begeisterung über den „Anschluss“ zu legitimieren. Plastisch wird das auch in der Bewerbung der Publikation „Der Österreich Anschluss 1938. Zeitgeschichte im Bild“. Darin heißt es: „Die oft ergreifenden Szenen dieses historischen Ereignisses rufen das dramatische Geschehen jener Februar- und Märztage in Erinnerung, in denen das Großdeutsche Reich entstand.“ (S. 2)
Die Werbeaktion in Innsbruck hatte ein Nachspiel, die Universität setzte eine Arbeitsgruppe ein und schaltete die Staatsanwaltschaft ein. Der Historiker Michael Gehler, Mitglied der Arbeitsgruppe, notierte, dass die Zielsetzung der Broschüre darin bestand, den „Anschluss“ als „demokratische und vom Volk so gewünschte Entscheidung darzustellen und damit den ‚deutschen Charakter Österreichs‘ nachzuweisen“. Dabei zeige sich, dass die zur Aufdeckung vermeintlicher Geschichtslügen angetretene Autorengemeinschaft „mit Manipulationen, Verfälschungen, schiefen Vergleichen, Verbiegungen, Aussparungen und Collage- und Montagetechniken arbeitete“[2]. Politikwissenschafter Anton Pelinka konstatierte, dass die Publikation „nicht für die historische Wahrheit, sondern für deren Verdeckung arbeitet“[3]. Anklage wurde nicht erhoben.
Weiterführende Literatur:
Michael Gehler, „1938 Lüge und Wahrheit. Weder Opfer noch Schuld.“ Quellenkritischer und didaktischer Umgang mit rechtsextremer Publizistik im „Anschluß“-Gedenkjahr 1988, in: Rolf Steininger/Sabine Pitscheider (Hg.), Tirol und Vorarlberg in der NS-Zeit, Innsbruck: StudienVerlag 2002, S. 425-448.
Reinhold Gärtner, Die ordentlichen Rechten. Die „Aula“, die Freiheitlichen und der Rechtsextremismus, Wien: Picus 1996.
Autor*in: Bernhard Weidinger, Rechtsextremismusforscher
Fotos: Michael Bigus (Objekt), Daniel Shaked (Porträt)
[1] Aula Nr. 4/1988, S. 4.
[2] Michael Gehler, „1938 Lüge und Wahrheit. Weder Opfer noch Schuld.“ Quellenkritischer und didaktischer Umgang mit rechtsextremer Publizistik im „Anschluß“-Gedenkjahr 1988, in: Rolf Steininger/Sabine Pitscheider (Hg.), Tirol und Vorarlberg in der NS-Zeit, Innsbruck: StudienVerlag 2002, S. 425-448, hier: S. 425f.
[3] Stellungnahme vom 30.5.1988 im Auftrag des Akademischen Senats der Universität Innsbruck.