Die zeitgeschichtliche Forschung geht von der Überlegung aus, dass neben Mitteln der Konsensbildung der Einsatz der repressiven Staatsapparate, insbesondere der Gebrauch des Strafrechts und die damit verbundene personelle Einbindung der Justizjuristen und der Justizverwaltung in das politische Kalkül, von großer Bedeutung für die Stabilisierung des NS-Systems waren. Inwieweit sich die diesbezüglichen Entwicklungen in Österreich ab März 1938 von denen in Deutschland unterscheiden, wird der Vergleich mit bereits erhobenen Daten ergeben. Das beabsichtigte Forschungsprojekt soll primär einen zeithistorischen Beitrag liefern, der sowohl juristische und historische wie politikwissenschaftliche und soziologische Methoden und Fragestellungen verbindet. Dabei werden bürokratiegeschichtlich-institutionelle, normative, rechts und strafrechtsgeschichtliche Zugänge erschlossen, die wohl am dichtesten als Juristische Zeitgeschichte umschrieben werden können. Zusammenfassend lassen sich folgende zentrale Zielsetzungen des Forschungsprojekts formulieren:
I. Spruchtätigkeit des Oberlandesgerichts Wien und des Volksgerichtshofs 1938-1945
Die NS-Justiz spielte eine zentrale Rolle bei der Verfolgung der Regime-Gegner. Dementsprechend wird der Herausarbeitung der Funktionen der Justiz als Organ des Staatsschutzes breiter Raum eingeräumt werden. Im Mittelpunkt steht die Spruchtätigkeit der involvierten Gerichte (law in action), die sich im Wesentlichen über die Straftatbestände Hoch- und Landesverrat und (ab 1943) Wehrkraftzersetzung definierte. Die Ahndung dieser Straftaten gehörte ab April 1934 in die erstinstanzliche Zuständigkeit des Volksgerichtshofs, dessen Anklagebehörde (Oberreichsanwaltschaft) die Strafverfolgung allerdings in großem Umfang an Oberlandesgerichte abgab. Aus dem Vergleich der Verfahren vor dem Volksgerichtshof und dem Oberlandesgericht Wien werden Ergebnisse zu den Verfahrenswegen erwartet, die über die Zuständigkeitsentscheidungen hinausgehen werden. Die Staatsanwaltschaften bei den Landgerichten/Sondergerichten und Oberlandesgerichten sind in diesem Zusammenhang exponierte Entscheidungs- und Schaltstellen, deren Arbeit es auf dem Hintergrund ihrer Weisungsgebundenheit gegenüber vorgesetzten Behörden (bis hin zum direkten Eingriff in laufende Verfahren durch das Reichsjustizministerium) nachzuzeichnen und zu erläutern gilt.
II. Phasenmodell politischer Strafjustiz
Auf der Grundlage einer quantitativen Auswertung der Anklageschriften und Urteile werden die durch politische Strafsachen betroffenen Gruppen und Einzelpersonen sowie die der Aburteilung zugrunde liegenden Straftatbestände (Normen, Delikte), die Entwicklung der Strafen (Strafmaß) und die beteiligten Richter und Staatsanwälte ermittelt und statistisch aufbereitet. Da es sich nicht um eine sequentielle Untersuchung einzelner Urteile handelt, können und sollen Verfahrensmerkmale und -ergebnisse systematisch für eine umfassende Anzahl von Entscheidungen analysiert und verallgemeinerbare Erkenntnisse gefunden werden. Die Ergebnisse sollen, verknüpft mit einer Zeitvariablen und weiteren in den Urteilsfindungen nicht direkt zum Ausdruck kommenden entscheidungserheblichen Fakten, in ein auf das Untersuchungsgebiet bezogenes und in Zeitphasen eingeteiltes Modell politischer Strafjustiz münden. Hinsichtlich der Periodisierung der Strafzumessung ist generell von einer Radikalisierung, d. h. von einer Veränderung des Rechts in ein Instrument NS-spezifischer Massenbeherrschung, auszugehen, die schließlich in der Kriegszeit in einer Flut von Todesurteilen gegen "Staatsfeinde" jeglicher Provenienz eskaliert. Diese Tendenz wird sich auch für Österreich wenn auch möglicherweise mit regionalen Besonderheiten nachweisen lassen.
III. Gruppenspezifische Verfolgungsstrukturen
Die Verfahren des Oberlandesgerichts Wien sind auf regionale Besonderheiten zu analysieren, um einerseits Traditionen und lokale Schwerpunkte bei der Verfolgung von Widerstandshandlungen (ländliche Gebiete Städte), andererseits aber eventuelle Kontinuitätsbrüche in der Geschichte von Widerständigkeit und resistentem Verhalten erkennen zu können. Letzteres kann Erklärungslinien einer möglicherweise dynamischen Dimension der Durchsetzung des NS-Systems in einer Region liefern. Es soll untersucht werden, ob und wie in scheinbar resistenten Gegenden beispielsweise Hochburgen der Arbeiterbewegung Loyalitätserfolge des NS-Regimes erzielt oder zumindest Passivität durchgesetzt werden konnten, während es andererseits in Gegenden mit traditionell hoher Regimekonformität möglicherweise zu Distanzierungstendenzen gegenüber Partei, Reichsregierung oder Militär kommen konnte.
Die Erfassung von Mitgliedern oder Sympathisanten politischer Organisationen, gegen die Hoch- und Landesverratsverfahren eingeleitet wurden, erlaubt eine genaue Ermittlung der jeweiligen Akzente der politischen Strafsachen in Österreich. Dabei werden sich sowohl durchgängige, an die Verfolgungsstrukturen zwischen 1934 bis März 1938 anknüpfende wie auch NS-spezifische Entwicklungslinien abzeichnen. Neben der Ausschaltung der sozialdemokratischen und kommunistischen Opposition geht es hier insbesondere um das Verhältnis von konservativmonarchistischen und austrofaschistischen Bewegungen zum deutschen Nationalsozialismus. Darüber hinaus lassen sich die Auswirkungen von regionalen und überregionalen politischen Ereignissen, wie z. B. dem Attentat auf Heydrich in Prag, über signifikante temporäre oder länger wirkende Veränderungen hinsichtlich der Nationalität bzw. der Gruppenzugehörigkeiten der Angeklagten nachweisen. Es ist zudem zu erwarten, dass diese Entwicklungen möglicherweise durch bestehende Ressentiments verstärkt werden konnten.
IV. Politische Strafjustiz und Frauen als "Täterinnen"
Die tatsächliche Strafpraxis soll hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Elemente der Verfolgungspraxis, sowohl bezüglich unterschiedlicher Delikthäufigkeit bei Frauen und Männern als auch hinsichtlich einer divergierenden Strafzumessung und deren Interpretation untersucht werden. Die vermuteten Differenzierungen können zum einen in einer besonderen Einbeziehung oder auch Nichteinbeziehung von Frauen in Widerstandsstrukturen begründet sein, die mit Bildern der Frauenrolle (auch in den Widerstandsgruppen selbst) verwoben sind. Zum anderen wird bei der Beurteilung der Strafrechtspraxis auf das Frauenbild der Richter und Staatsanwälte rekurriert werden müssen.
V. Österreich und Hessen im Vergleich
Die in Punkt I bis IV angeführten Zielsetzungen werden seit 1998 mit den gleichen methodischen Instrumenten im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes für das Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen bearbeitet. Unter Einbeziehung dieser Forschungsergebnisse in die Auswertung der Quellen zu Österreich (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, Oberlandesgericht Wien und Bundesarchiv Berlin) wird eine empirische sowie quantitative Analyse der Spruchpraxis des Volksgerichtshofes für verschiedene Regionen und mehrerer Oberlandesgerichtsbezirke erstmals komparativ möglich sein. Komparatistik ist in diesem Zusammenhang als methodischer Zugriff zu verstehen, der es erlaubt, Unterschiede und Ähnlichkeiten der Wirkungsweise eines diktatorischen Systems im Inland und einem besetzten (angeschlossenen) Gebiet herauszuarbeiten. Die für Hessen ermittelten Daten entsprechen etwa denen von 5 % der Reichsbevölkerung (1937) und ermöglichen verallgemeinerbare komparative Arbeiten.
Der erste (horizontale) Vergleich umfasst die Urteilspraxis des Volksgerichtshofes in Verfahren gegen ÖsterreicherInnen und Angeklagte aus dem ehemaligen Volksstaat Hessen und der preußischen Provinz Hessen-Nassau. Im zweiten (horizontalen) Vergleich soll die Arbeit des Oberlandesgerichtes Wien (ab 1938) in erstinstanzlichen Strafsachen mit denen des Oberlandesgerichtes in Kassel (auch für die OLG-Bez. Darmstadt und Frankfurt/M. zuständig) untersucht werden. Die Regionalisierung der politischen NS-Strafjustiz setzte jedoch die Entscheidung einer höheren Instanz voraus (Abgabe eines Verfahrens). Folgerichtig muss sich eine vertikale Vergleichsebene mit den die Dokumentationsgebiete betreffenden Verfahren vor dem Volksgerichtshof und den an Oberlandesgerichte abgegebenen politischen Strafsachen befassen.