Blog des DÖW-Fotoarchivs, Februar 2024
Michael Achenbach
Ein Hauptziel der sich im März 1933 etablierenden austrofaschistischen Diktatur unter Kanzler Engelbert Dollfuß war von Beginn an die Zerstörung der österreichischen Sozialdemokratie. Mussolini nutzte seine Rolle als wichtigster außenpolitischer Partner Österreichs und drängte ebenfalls mehrmals auf die baldige Ausschaltung von KPÖ (Kommunistische Partei Österreichs) und SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei). Ein Hebel zur Erreichung dieses Zieles war im März 1933 das Verbot des Republikanischen Schutzbundes, der paramilitärischen Organisation der Sozialdemokratie, und die Beschlagnahme von dessen Waffenbeständen. Da viele dieser Waffen vor dem Regierungszugriff versteckt wurden, kam es immer wieder zu Razzien in Einrichtungen der SDAP.
Zu Beginn des Jahres 1934 intensivierte der Austrofaschismus die gegen die SDAP gerichteten Angriffe und Provokationen. Der Linzer Schutzbundführer Richard Bernaschek ließ die Wiener Parteileitung wissen, dass er einer weiteren Provokation mit Waffengewalt entgegentreten würde. Als in den frühen Morgenstunden des 12. Februar die Heimwehr zur Durchsuchung des sozialdemokratischen Parteiheimes in Linz anrückte, widersetzte sich wie angekündigt der örtliche Schutzbund und der bewaffnete Widerstand griff rasch um sich. Vor allem in Wien und in den meisten Industrieregionen Österreichs wurde drei Tage lang heftig gekämpft. In Wien waren die Gemeindebauten Reumannhof, Karl-Marx-Hof, Sandleitenhof, Schlingerhof und Goethehof, aber auch das Arbeiterheim in Ottakring, besonders stark umkämpft.
Im Fotoarchiv des DÖW findet sich ein kleinformatiges Fotoalbum[1], dessen Bilder Bezug auf die Februarkämpfe von 1934 nehmen. Wem das Album ursprünglich gehörte ist nicht bekannt.
Das Format des kleinen Albums beträgt 11,2 x 8 cm. Vorderes und hinteres Deckblatt sind in einem blassen Rosa gehalten und tragen die Aufschrift der 1879 im britischen Ilford, Essex, gegründeten gleichnamigen Fotofirma. Außerdem findet sich die Aufschrift „SELO“ bzw. „SELOchrome Film“ auf den Deckblättern. Dabei handelte es sich um Werbung für einen Anfang der 1930er-Jahre von Ilford auf den Markt gebrachten Rollfilm. Vor Einführung des Rollfilms hatte Ilford nur Glasplatten und Fotopapier in seiner Produktpalette. Vermutlich wurden diese Alben beim Kauf von Ilford-Rollfilm als kleines Präsent an die Käufer abgegeben. Das Album steckte in einer fast gleichgroßen (11,5 x 8,2 cm), an zwei Seiten verklebten Papphülle, die ursprünglich nicht zum Album gehörte und ebenfalls Werbung – für Perutz-Filmmaterial – trägt. Aus den Aufschriften lässt sich zudem schließen, dass sowohl Hülle als auch Album aus Zagreb stammen. Möglicherweise ist das ein Hinweis auf die Herkunft des unbekannten ersten Besitzers oder der Besitzerin des Albums.
Zwischen den Deckblättern sind 18 dunkelgraue Seiten aus dünnem Karton geheftet. Die Seiten weisen in allen vier Ecken ein gleichmäßiges Schnittmuster auf. In diese vorgestanzten Schnitte konnten verschiedenformatige Fotos eingeschoben und somit im Album fixiert werden. Alle Seiten sind bestückt, so dass sich 36 Fotos im Album befinden.
Das erste Foto im Album lässt sich als politisches Statement derjenigen Person lesen, die das Album ursprünglich zusammenstellte. Es zeigt das noch unversehrte Denkmal der Republik, die zur Zeit ihrer Ausrufung im November 1918 noch „Deutschösterreich“ genannt wurde. Nicht nur das Foto, sondern auch die demokratischen Werte die das Denkmal verkörpert, standen für den Besitzer bzw. die Besitzerin augenfällig an erster Stelle. Auf dem Bild sind vor dem Denkmal abgelegte Kränze zu erkennen, weshalb als sein spätestes Entstehungsdatum der November 1932 anzunehmen ist.[2]
Die nächsten beiden Fotos zeigen dagegen schon das von den Austrofaschisten am 13. Februar 1934 verhüllte Denkmal. Sowohl die drei Büsten von Jakob Reumann, Victor Adler und Ferdinand Hanusch, als auch die Inschrift auf dem querliegenden Steinblock sind mit Krukenkreuzfahnen verhüllt, der mittlere Granitquader trägt zusätzlich den oberen Teil eines Dollfuß-Plakates.[3] Da die drei Büsten in der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 1934 entfernt wurden, lässt sich das Entstehungsdatum dieser beiden Fotos sehr genau eingrenzen. Die abweichende Qualität in der Fotoausarbeitung und das unterschiedliche Fotopapier geben einen ersten Hinweis darauf, dass die im Album befindlichen Bilder aus unterschiedlichen Quellen stammen.
So können einige Fotos eindeutig als zugekauft identifiziert werden. Dies betrifft beispielsweise das Foto des verwundeten Karl Münichreiter, aber auch ein Bild mit den drei kombinierten Portraits von Münichreiter, Weissl und Walisch, das nach den Februarereignissen als Postkarte herausgegeben wurde und in der sozialdemokratischen Anhängerschaft weite Verbreitung fand.[4]
Auffallend ist in der Zusammenstellung ein Foto von Dollfuß in Zivil. Es zeigt ihn auf der Straße im Gespräch mit einem hohen Polizeioffizier, weitere Polizeibeamte und Angehörige des Bundesheeres sind ebenfalls im Bild zu erkennen. Denkbar ist, dass es sich um einen zufälligen Schnappschuss handelt, der zu einem anderen Anlass einige Zeit vor den Kämpfen entstand. Die Anwesenheit von Dollfuß am Bürgerkriegsschauplatz ist belegt. Es gibt mehrere Fotos, die ihn am 14. Februar bei dem Besuch einer Artilleriestellung an der Floridsdorfer Brücke zeigen.[5]
Dort tritt er jedoch nicht in zivil auf, sondern in seiner Weltkriegsuniform. Es kann davon ausgegangen werden, dass Dollfuß in der Bürgerkriegssituation einem Auftritt in Uniform tatsächlich den Vorzug vor einem Auftritt in Zivilkleidung gab. Bei Anlässen, in denen er weniger in seiner Regierungsfunktion als Kanzler denn als „Frontführer“ der Vaterländischen Front auftrat, bevorzugte er jedenfalls seine Uniform. Vermutlich wurde das Foto ins Album eingefügt, um Dollfuß als obersten Verantwortlichen für die Kampfhandlungen sichtbar zu machen.
In ungewohnter Offenheit zeigt das Album auch getötete Schutzbündler. Auf einem Foto sieht man einen jungen Mann in Winterkleidung und Winterschuhen am Rande eines mit einem Zaun begrenzten Gartens im Schnee liegen. Da in Wien zum Zeitpunkt der Kämpfe kein Schnee lag, wird das Foto vermutlich aus Oberösterreich stammen. Vergleichsfotos zeigen eine ähnlich unvollständige Schneedecke rund um den stark umkämpften Jägermayrhof in Linz. Dem/der Besitzer*in des Albums war daran gelegen, auch die Ereignisse in den Bundesländern zu dokumentieren – jedenfalls soweit dies möglich war. Wie diese Fotos ins Album gelangten ist nicht mehr nachzuvollziehen, wahrscheinlich durch Tausch mit Gesinnungsgenoss*innen. Auf ähnliche Weise dürfte auch eine bekannte Aufnahme aus Bruck an der Mur, eine Gefechtssituation am Kornmesserhaus, den Weg ins Album gefunden haben.
Auch die Aufnahme eines eher provisorisch anmutenden Panzerzuges des Bundesheeres findet sich im Album. Aufnahmen von Zerstörungen am Karl-Marx-Hof sind weit verbreitet und dürfen auch in diesem Album nicht fehlen, sind sie doch nach den Kämpfen zu Bildikonen der Berichterstattung über die Februarkämpfe geworden. Einen wesentlich größeren Platz nehmen im Album jedoch Fotos von Beschädigungen am Goethehof ein, dem sich etwa ein Drittel aller Fotos widmen. Es scheint nicht ganz abwegig, zu vermuten, dass die Person, die das Fotoalbum zuerst besessen hat, im Goethehof gewohnt hat. Den Abschluss des Albums machen Aufnahmen vom zerstörten Arbeiterheim in Ottakring, die in ähnlicher Art ebenfalls recht häufig zu sehen sind.
Eine auf den ersten Blick relativ unscheinbare und nicht zu verortende Aufnahme einer beschädigten Hofeinfahrt entpuppte sich bei näherer Betrachtung als ein weiteres Indiz für die These, dass der/die Albumbesitzer*in im Goethehof wohnte und viele der Fotos auch selber anfertigte. Im Hintergrund des Bildes lässt sich auf einer leergeräumten Anschlagtafel der Hausverwaltung eine weiße Kreideaufschrift „Heil Starhemberg“ entziffern. Ein beinahe identes Bild aus einer zeitgenössischen Illustrierten zeigt dieselbe Hofeinfahrt.[6] Dort sind darüber hinaus auch Bundesheersoldaten zu sehen, die gerade durch die Einfahrt in den Hof stürmen. In der Bildmitte sichern zwei Soldaten mit MG den vermeintlichen Vorstoß. Es handelt sich dabei mit Sicherheit um eine nachträglich gestellte Szene. Kein*e Fotograf*in hätte sich freiwillig zwischen die kämpfenden Parteien begeben, um ein solches Foto aufzunehmen. Durch das Vergleichsfoto und dessen Bildunterschrift lässt sich jedenfalls auch das Bild der Hofeinfahrt im Taschenalbum eindeutig dem Goethehof zuordnen.
Da die Fotos nicht nummeriert sind und auch andere Hinweise fehlen ist es schwierig zu beurteilen, ob die Abfolge der Fotos noch mit der ursprünglichen Reihung übereinstimmt. Jedoch scheinen die Fotos einer inneren Logik zu folgen. An das Republikdenkmal reihen sich Opfer des Schutzbundes und das Dollfuß-Foto an. Es folgen Aufnahmen einiger Gemeindebauten wie Schlingerhof, Karl-Marx-Hof oder Reumannhof und darauf der umfangreichere Bestand von Fotos zum Goethehof. Bei den abschließenden Aufnahmen des Ottakringer Arbeiterheimes ist eine leichte Mischung mit den Fotos des Goethehofes erkennbar.
Der Widerstand von Teilen der Sozialdemokratie gegen die faschistischen Kräfte in der Regierung wurde von Polizei, Gendarmerie, Heimwehr und Bundesheer, auch unter Einsatz von schweren Waffen, brutal niedergeschlagen. Der Wiener Gemeinderat, der Stadtsenat und das Bürgermeisteramt wurden schon am 12. Februar für aufgelöst erklärt und alle ihre Aufgaben einem „Bundeskommissär“ übertragen. Die Befugnisse des Bundeskommissärs gingen zwei Monate später auf den von der autoritären Regierung neu eingesetzten Bürgermeister über. Damit existierte das „Rote Wien“ nicht mehr.
Im Taschenalbum bewahrte der/die Besitzer*in für sich und den engeren Freundes- und Bekanntenkreis die Erinnerung an die Zerstörung aller Errungenschaften der Republik durch den Austrofaschismus auf. Gleichzeitig dokumentierte das Album aber auch den Versuch eines Widerstandes gegen einen militärisch weit überlegenen politischen Gegner. Seine Zusammenstellung und Aufbewahrung in den folgenden Jahren kann somit als widerständiges Bekenntnis gegen den Austrofaschismus gedeutet werden. Das kleine Taschenformat mag geholfen haben die Fotos leichter verbergen zu können, denn das offene Herzeigen seines Inhaltes war unter dem neuen Regime nicht ratsam.
[1] DÖW-Fotoalbum 06218
[2] Im November jeden Jahres wurden und werden (außer von 1933 bis 1944) am Denkmal zur Erinnerung an die Republikgründung vom offiziellen Österreich Kränze abgelegt.
[3] Das Plakat von 1933 warb mit der Aufschrift „Hinein in die vaterländische Front“ zum Beitritt in die Einheitspartei der austrofaschistischen Regierung.
[4] Vgl. DÖW-Foto 05399.
[5] Vgl. DÖW-Foto 02514-006.
[6] Das interessante Blatt, 22. Februar 1934, S. 2.