logo
logo

Franz West: "Du musst mich 'aufnorden'."

Franz West, geb. 1909 in Magdeburg als Kind einer jüdischen Familie. 1924 Übersiedlung nach Wien. Ab 1925 im Verband Sozialistischer Mittelschüler, später im Verband Sozialistischer Studenten Österreichs. Sein Jusstudium kann er aus politischen Gründen nicht abschließen. Noch vor dem Februar 1934 KPÖ. Sieben Monate Haft. 1935-1938 Mitglied der Zentralleitung der KPÖ. April 1938 Flucht über die ČSR und Frankreich nach England, führende Funktionen in diversen Exilorganisationen.

Im Herbst 1945 Rückkehr nach Wien. 1946-1968 Chefredakteur von "Weg und Ziel", 1965-1969 Chefredakteur der "Volksstimme". 1969 Austritt aus der KPÖ. Bis zu seinem Tod freischaffender Publizist (u. a. "Wiener Tagebuch"). Langjähriger freier Mitarbeiter des DÖW.

Verstorben 1984.

 

 

Zu dem Zeitpunkt, am 11. März, als die Kapitulation erfolgte, war ich am Vormittag noch im Café "Meteor". [...] Dann bin ich nach Haus, in mein illegales Quartier gegangen. Ich hab nichts zu tun gehabt. Es war vereinbart, um 17 Uhr trifft man sich wieder im "Meteor", weil wieder eine Delegation bei der Regierung war. Es lag irgendetwas in der Luft. Ich hab bei der Familie, wo ich gewohnt hab, Radio gehört und hab dann die Kapitulationsrede Schuschniggs gehört. Ich hab mich sofort angezogen, bin runter. Ich bin durch die Heinzelmanngasse zum Wallensteinplatz gegangen. Es war schon so eine Atmosphäre, du hast schon gesehen, aus den Häusern sind "Heil-Hitler" brüllende junge Leute mit Armbinden und Fahnen gekommen. Ich konnte ein Taxi kriegen und hab versucht, Richtung "Meteor" zu fahren. Ich weiß nur, das Taxi ist von der Brigittenau über eine Donaukanalbrücke rüber durch die Stadt gefahren und man ist schon auf eine große Menschenmenge gestoßen, die "Heil-Hitler" gerufen hat. Wachleute haben bereits Armbinden mit dem Hakenkreuz getragen. Ich bin nicht mehr bis zum "Meteor" gekommen. Ich hab das Taxi bezahlt und bin, ein bisschen um mich schauend, wieder zurück in mein Quartier und hab versucht, durch meine Frau Kontakte mit den übrigen Sekretariatsmitgliedern der KPÖ zu bekommen. Es hat geklappt, entweder am selben Abend oder am nächsten Tag in der Früh.

 

Nun hat sich Folgendes abgespielt: Fast die gesamte Garnitur von leitenden Kommunisten war entweder - so wie ich - jüdisch und allein schon deshalb gefährdet oder gerade knapp vorher durch Amnestie aus dem Gefängnis gekommen, also bekannt. Es war auch bekannt, dass die Gestapo, noch bevor Schuschnigg die Macht übergeben hat, durch ihre Positionen in der Polizeidirektion, im Innenministerium war, um die Polizeiakten sicherzustellen. Der Instruktor des Pol-Büros [Politischen Büros] "Konrad" [Hermann Köhler], der damals im Land war, war noch am Abend im "Meteor", wo sich alles auf der Basis "jetzt muss man sich sichern" verzogen hat. Wir haben ihn getroffen [...] und haben eine kurze Sekretariatssitzung gehabt. Wir konnten über unseren telefonischen Verbindungsweg nach Prag erfahren, dass das Pol-Büro bereits in der Nacht vom 11. auf den 12. März mit einem Aufruf herausgekommen ist. Wir haben folgende Weisung gehabt: Es sind ein, zwei Leute aus dem Kreis des Sekretariats namhaft gemacht worden, die eine Übergangsverbindung - was an Verbindung noch vorhanden war - halten sollten. Die große Masse der gefährdeten Genossen wurde aufgefordert, das Land zu verlassen.

 

Wir haben unseren ganzen Grenzübergangsmechanismus noch in Ordnung gehabt, und wir haben begonnen, gefährdete Leute aus dem Land zu schaffen. Das war im Großen und Ganzen die wesentlichste Aufgabe neben dem Halten der Verbindungen. Zwei Leute kamen für die Neuorganisierung der Arbeit in Betracht. Das war der Auftrag des Pol-Büros. Das waren mein von mir so oft geschilderter persönlicher Freund "Walter", der Deutsche "Walter" (Bruno Dubber) und Hans Pointner - "Stahl", der, mittlerweile amnestiert, aus der Polizeihaft gekommen war. Diese zwei wurden vor allem deshalb ausgewählt, weil sie nicht Juden, sondern - wie 's so schön im neudeutschen Jargon hieß - "Arier" waren. Ich war der letzte Leiter des Sekretariats und bin ganz bewusst noch in Österreich geblieben bis zu dem Zeitpunkt, wo die von uns vorgesehene illegale Ausreiseaktion und Herstellung von lockeren, aber doch echten Verbindungen nach bestimmten Punkten hin abgesichert war.

 

Aufgrund der Polizeiakten und der schnellen Verhaftung einer Reihe von Leuten, die teilweise in den ersten Verhören ein bisschen umgekippt sind, war der Gestapo klar, dass ich in Wien bin. Ich bin am 17. April weggefahren. So um den 5. April herum erschien die Gestapo in der Wohnung meiner Eltern. Mutter und Vater waren damals 64, 65 Jahre alt. [...] Sie haben meinen Vater mitgenommen und haben meiner Mutter gesagt: "Ihr Sohn ist in Wien versteckt. In dem Moment, wo er sich stellt, ist sein Vater frei." Stellen konnte ich mich nicht, das war klar. Ich hab mit den Genossen, die von der Leitung des Sekretariats noch da waren - vor allem also "Walter" und "Stahl" - das Problem besprochen. Wir haben uns darauf geeinigt, dass meine Ausreise beschleunigt werden soll, damit ich sofort vom Ausland eigenhändige Briefe an meine Mutter schicken konnte, die sie herzeigen konnte, um so meine Abreise zu beweisen. Offiziell war ich doch von Österreich ausgewiesen. [...]

 

Wie wir drei so weit waren, waren alle unsere Grenzstellen kaputt. [...] Wir wurden an einen Schmuggler empfohlen, einen gewerbsmäßigen Schmuggler, der uns über die tschechoslowakische Grenze bringen sollte. Offenbar hat es sich gelohnt zu schmuggeln. Es war schon ein bisschen ein Abenteuer! Schließlich und endlich hat man den Mann nicht gekannt. Es hat 200 Schilling pro Kopf gekostet, das war eine ganz saubere Summe.

 

Eine Woche, bevor wir weggingen, ist einer der Letzten unserer Partie, der mittlerweile auch verstorbene Hans Lechner, Betriebsrat in der Wimpassinger Semperit-Fabrik und damals schon Mitglied des Zentralkomitees, an die Grenze gefahren. Bei einem der Übergänge ist er hingekommen und konnte nicht durch, hat keinen Kontakt mehr gefunden, und gegen Abend ist er in einen Bus eingestiegen, um die Bahnlinie zu erreichen und nach Wien zurückzufahren. Er hat uns folgende Schauergeschichte erzählt: Im Bus, vorne beim Chauffeur, sind zwei oder drei Bauern gesessen. Er ist eingestiegen, es war ein ganz leerer Bus, ganz leer bis auf die drei. Er hat sich ein bissl weiter nach hinten gesetzt. Im Bus spielte sich folgende Diskussion ab: Sagt der eine im Gespräch: "Jetzt geht 's den Juden aber an den Kragen." Sagt der andere: "Na ja, ich hab ja eine Menge gehört, was die alles angerichtet haben. Aber ich hab in meinem Leben nie einen gesehen." Sagt der eine wieder: "Ist ganz einfach, die erkennt man sofort. Vor allem haben sie kohlschwarzes Haar." Und Hans Lechner - ein "Vollarier" - hatte kohlschwarzes Haar. In dem Moment, wie der eine das sagt, schauen sie sich alle um, schauen den Lechner an. Er war froh, dass er bei der nächsten Station aussteigen konnte.

 

Für mich ist folgende Situation entstanden: Von den zweien, mit denen ich fahren sollte, war "Walter" ein blonder, nordischer Typ; Hans "Stahl" war ebenso blond, aber weniger nordisch. Ich war nicht nur tatsächlich ein Jud, sondern habe mit meinen schwarzen Haaren und mit meiner etwas jüdischen Nase auch so ausgeschaut und bin auf einen irrealen Gedanken verfallen. Ich habe in der Darwingasse einen Onkel gehabt, einen Bruder meiner Mutter, der dort ein kleines Friseurgeschäft hatte. Dort bin ich, bevor ich weggefahren bin [...] hingegangen und hab ihm gesagt: "Du musst mich 'aufnorden'. Du musst schauen, dass ich meine schwarze Haarfarbe verlier." Mein Onkel Mundi - er ist mit seiner ganzen Familie irgendwohin verschleppt worden, zugrunde gegangen - hat angefangen, meine Haare mit Wasserstoffsuperoxyd zu bearbeiten. Einmal, zweimal, dreimal, viermal ... Die ganze Kopfhaut war schon aufgeätzt - ich hab immer so dünnes Haar gehabt. Schließlich und endlich war das Resultat, dass ich eine Haarfarbe gehabt hab, die 's nicht gibt. So wie die Clowns im Zirkus sich diese Perücken aufsetzen, mit so einer schreienden kupferroten Farbe - so etwas ist herausgekommen. Wir haben beim Haarschnitt alles an den Seiten weggeschnitten, so dass bloß kleine Borsten herausgeschaut haben. An der oberen Kopfpartie habe ich mir einen kleinen, reichsdeutschen Scheitel frisiert. Die Haare blieben allerdings nach wie vor fürchterlich! Ich hab mir dann einen alpenländischen Hut gekauft, einen Wanderhut mit Sträußerln dran. Eine Plakette von der Volksabstimmung am 10. April hab ich mir an den Hut gesteckt und ein kleines Parteiabzeichen an den Mantel. Es war Frühjahr und ich hab einen Regenmantel angehabt. [...]

 

"Walter" hab ich vor unserer Abreise noch gesehen und ihn auf meine schreckliche Haarfarbe aufmerksam gemacht. Bei all der Traurigkeit und bei all den Schmerzen war das natürlich Gegenstand einer "Mordsgaudi", weil so hat man wirklich nicht aussehen können. Den "Stahl" hab ich nicht mehr vor der Abreise getroffen. Wir haben vereinbart, dass wir uns nicht kennen. Der Autobus nach Retz war ziemlich voll. Links, zwei Reihen vor mir, ist Pointner [= "Stahl"] gesessen. Ich hab natürlich auch den Schnurrbart abrasiert gehabt. Wir fahren, und er schaut sich so um, sucht uns. Er sieht den "Walter" sofort und schaut mich an. Schaut mich noch einmal an, ganz deutlich, und erkennt mich nicht. Dieser Retzer Autobus hat in Hollabrunn vor einem Wirtshaus gehalten. Dort konnte man in den Wirtshaushof hineingehen und "schiffen". Ich hab gewartet, und wie der Pointner rausgegangen ist, bin ich ihm nach. Wir sind rein ins Klo. Ich hab mich direkt neben ihn gestellt und nehm so ein bissl den Hut runter und sag leise: "Guten Tag." Der schaut mich vollkommen entsetzt an. Jetzt - jetzt erkennt er mich! Ich seh noch, wie er sich schnell das Taschentuch in den Mund stopft, weil ich muss einfach völlig lächerlich ausgesehen haben. [...].

 

Nahe der Grenze, in einem Wirtshaus, hat uns der Schmuggler erwartet. Wir sind mit ihm durch ein Seitentor aus dem Gasthaus hinausgegangen, dann hat er uns durch einen Hof in einen Weingarten geführt. Es war keine schlechte Nacht. Wir sind durch den Weingarten leicht bergauf, auf schmalen Wegen gegangen. Bei einem Weinkeller ist der Schmuggler auf einmal stehen geblieben und sagt: "Da. Kommts rein da." Wir waren fürchterlich verunsichert: Was spielt sich da ab? Ich seh noch Hans Pointner vor mir; er hat die Hand so in der Tasche gehabt und hat zu dem Schmuggler gesagt: "Du, pass auf, wir sind Politische. Wenn uns die Gestapo erwischt, sind wir hin! Aber der Erste, der hin ist, bist du. Weil wir schießen, wir lassen uns nicht abschlachten." Der war ganz aufgeregt. Dann haben wir ihn gefragt, was er eigentlich will. Sagt er: "Pro Kopf zweihundert Schilling." Haben wir gesagt: "Wir sind noch nicht in der Tschechoslowakei." Hat er uns einen Vortrag gehalten über normale Praktiken bei Schmugglern: Bevor die Grenze überschritten wird, wird bezahlt. Dass die Ware rüberkommt, ist Sache der Schmugglerehre usw. Also, was ist uns übrig geblieben? Wir haben ihm jeder zweihundert Schilling gegeben. Hat er gesagt: "Kommts wieder raus." Wir sind vielleicht noch vierzig, fünfzig oder achzig Meter in die gleiche Richtung weitergegangen. Dann ist er stehen geblieben. Wir waren auf einer Anhöhe, drüben hat man Lichter gesehen. Hat er gesagt: "Wir sind bereits seit fünf Minuten auf tschechoslowakischem Boden. Dort ist Znaim. Rechts unten ist ein Grenzposten." Er kann uns nur den Rat geben, immer die Lichter von Znaim vor Augen, quer durch den Wald weiterzugehen. [...]

 

Von Znaim sind wir mit dem ersten Frühzug nach Prag gefahren. Ich bin bei guten Bekannten untergebracht worden, die waren natürlich schockiert über meine Haare. Und es wurde sofort gesagt: Das Wichtigste ist, ich muss sofort wieder die Haare färben. Die Hilde Koplenig, die Frau vom Koplenig - er war auch in Prag zu dieser Zeit - und die Genossin, bei der ich gewohnt hab, haben mich sofort zu bearbeiten begonnen. Das war nicht sehr leicht, weil die Haare waren alle so kraftlos und wenig. Franz Honner kam zu mir und hat mir folgende abenteuerliche Geschichte erzählt: "Schau, Beck" - Beck war mein illegaler Name - "wir müssen uns klar sein, mit dem Hitlerfaschismus - eine kurze Perspektive ist das nicht. Jetzt kommt eine harte Zeit, und wer weiß, ob net Krieg kommt, die Nazi sind voll drauf und dran. Auf jeden Fall, was wir brauchen werden für dieses Kriegführen, ist Geld. Massiv Geld werden wir brauchen für die ganze Organisierung der illegalen Arbeit." Es hat sich zufällig ergeben, dass ein führendes Mitglied der Kommunistischen Partei der Vereinigten Staaten auf der Durchreise aus Moskau in Prag war, und der hat Folgendes gesagt: "Für antifaschistische Sachen ist in Amerika Geld zu holen. Für Anti-Hitler-Sachen erst recht. Es gibt reiche Juden. Es gibt Demokraten usw. Ihr müssts das organisieren."

 

Ich sollte am 25. April von Le Havre mit einem amerikanischen Frachter nach Kuba fahren. In Kuba gab es eine Methode, sich zu legalisieren und kurzfristig nach Amerika zu kommen. [...]

 

Es war etwas schwierig für mich, einen Pass zu besorgen. Um nach Frankreich zu kommen, musste ich fliegen. Ich konnte doch nicht über deutsches oder österreichisches Gebiet mit dem Zug fahren. [...] Dann hab ich den Pass bekommen, das muss schon zu dem Zeitpunkt gewesen sein, wo ich in Le Havre hätte sein müssen. Honner hat mir gesagt: "Gehts schief, dann bist du in Paris und musst dich registrieren lassen." [...]

 

Ich bin nach Paris gekommen, hab eine Anlaufstelle gehabt. Dort hat man mich schon erwartet, aber Tage vorher. Man hat mir gesagt: "Aus. Das Schiff ist weg." Man hat mich zur Secours Populaire, also in die Volkshilfe der französischen Partei geführt. Dort war ein Büro für Österreicher, und da drin ist mein alter Freund Franz Marek gesessen. Ich hab nicht ein Stück Papier außer dem falschen tschechoslowakischen Pass gehabt, den haben sie mir in der Anlaufstelle abgenommen. Ich bin dann mit zwei Zeugen zur Prefecture, zur Fremdenpolizei, gegangen und hab mich dort unter meinem richtigen Namen, Franz Weintraub, legalisiert. Allerdings - wie das schon damals war, war Frankreich faktisch für Flüchtlinge aus Österreich gesperrt. Ich hab bei der Prefecture ein hübsches Papier bekommen, das ich dann leider abgeben musste, wie ich ein Reisepapier gekriegt hab. Auf dem ist ungefähr gestanden: "Vor diesem Amt erschien ein menschliches Wesen, das erklärte, Franz Weintraub zu heißen und von ..." Ich hab nämlich Österreich gesagt, haben sie gesagt: "Nein, das ist jetzt Deutschland." Sag ich: "Ich bin österreichischer Abstammung." Und es hat diese Eintragung gegeben: "Ex-Autrichien". Ich wurde als "Ex-Autrichien" eingetragen. Das sollte mir sehr helfen, weil ich dann für die Zeit meiner Emigration meine Staatenlosigkeit verloren habe. Wie ich nach England kam, hat man dort keinen "Ex-Autrichien" gekannt, sondern man hat gesagt, wenn jemand sich als Österreicher bekennt, ist er ein "Austrian".

 

<< zurück

 

Unterstützt von: