Hubert Wingelbauer, geb. 1915 in Wien, 1933 Eintritt in das österreichische Bundesheer. Wegen der jüdischen Abstammung seiner Mutter im A pril 1939 aus der Deutschen Wehrmacht entlassen. Ab Jänner 1940 Mitarbeit in der "Österreichischen Freiheitsbewegung/Gruppe Lederer", Haft vom 7. September 1940 bis 1. April 1943, am 23. November 1944 vom Oberlandesgericht Wien wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" zu 2 Jahren Zuchthaus verurteilt. Vom 15. Februar 1. April 1945 Lagerhaft mit Arbeitseinsätzen am so genannten "Ostwall", von wo er flüchten und untertauchen konnte.
Nach 1945 Eintritt in die Bundesgendarmerie, ab 1955 beim österreichischen Bundesheer, zuletzt bis zu seiner Pensionierung als Generaltruppeninspektor tätig.
Verstorben 1987.
Dann kam die so genannte Teilmobilmachung bei der "Schnellen Division". Aber erst am Tage, wo der Schuschnigg dann am Abend zurückgetreten ist, sind die Reservisten eingerückt, am 11. März. Nun war das relativ gut vorbereitet, die waren im Nu eingekleidet, und wir waren eigentlich in zweieinhalb, drei Stunden in der Lage, dem Abmarschbefehl an die deutsche Grenze Folge zu leisten. Das Bataillon wurde alarmiert, wir sind [von Neusiedl am See] abmarschiert. In Bruck sind die zu uns gehörenden Straßenpanzer dazugestoßen, Bruck a. d. Leitha natürlich, und wir wurden an die deutsche Grenze verlegt. Also: Ziel deutsche Grenze. [...]
Ich erinnere mich an die Durchfahrt durch Wien. Wir sind Simmeringer Hauptstraße-Rennweg herein. In dem Arbeiterbezirk, 11. Bezirk, waren natürlich die Neugierigen, die immer zusammenrennen, wenn wer daherkommt. Es war eine zurückhaltende Stimmung unter den Leuten, also weder "Bravo Bundesheer!" oder "Endlich Bundesheer! Lasst den Falotten nicht herein!" noch Lethargie. Die Leute haben uns irgendwie stumm angeschaut, und wir sind da durchgegondelt. Wie wir dann genau durch Wien sind, weiß ich nicht, wir sind jedenfalls wieder herausgekommen auf der jetzigen Bundesstraße Nr. 1. Dann sind wir weitergefahren - St. Pölten, da war nichts. Obwohl man dort dann schon gesehen hat, es sind mehr Leute auf der Straße. Und dann sind wir weitergefahren und nach Melk gekommen. Und in Melk, kann ich mich erinnern, waren so die ersten Zurufe in der Richtung: "Was wollts? Wollts den Hitler begrüßen fahren?" Es gab bereits Hakenkreuzfahnen, spärlich, aber es gab Hakenkreuzfahnen an einzelnen Fenstern. Die Stimmung in der Bevölkerung, die uns durchfahren gesehen hat, war nicht bösartig, sondern eher: "Was wollts, ihr armen Hascher?" bzw. doch eher: "Na, jetzt werden andere Zeiten kommen." Aber es gab keinerlei feindliche Handlungen, dass etwa einer einen Stein geworfen hätte.
Wir sind durch Melk durch und haben ein erstes Erlebnis des Versuches der Hinderung eigentlich in der Gegend von Ybbs-Blindenmarkt gehabt, zwischen Melk und Amstetten liegend. Auf einmal - wir sind militärisch richtig gefahren, vorne eine Sicherung, ich war da bei der Kompanie als Leutnant dabei - kommt so ein Melder, Kradfahrer, zu uns: "Da vorne stehen zwanzig, dreißig Burschen, wir dürfen nicht weiter." - "Wer sind die?" - "Ja, es ist der neue Bürgermeister von Blindenmarkt, er sieht keine Veranlassung, dass wir da weiter vorrücken, jedenfalls sperrt er die Bundesstraße, er lasst uns nicht durch." Wir hatten natürlich nach wie vor den für uns geltenden Befehl: "Wir verlegen an die deutsche Grenze." Irgendwo an den Inn - wobei ich mich heute an den Ort nicht mehr erinnern kann. Das war noch der alte Jansa-Plan. Hat der Kompaniekommandant zu einem Leutnant, der dann später gefallen ist, gesagt: "Gehen Sie mit zehn Mann vor, schauen, was da für ein Blödsinn ist." Der Leutnant fährt hin, und nach einer gewissen Zeit, gar nicht so lang, kam er zurück: "Die Straße ist frei." - "Was habts denn gemacht?" Hat er gesagt: "Ein paar Fotzen haben wir ihnen gegeben." So war es auch. Wir fuhren dann hin, und da sind so auf sichere Distanz schon ein paar Burschen gestanden, und wir fuhren dann weiter.
Dann kamen wir in den nächsten größeren Ort. Amstetten war bereits voll von Hakenkreuzen, der vorherrschende Ruf war: "Fahrts ihr nur mehr den Hitler begrüßen? Der Schuschnigg ist zurückgetreten!" Wir haben das nicht geglaubt [...] Vielleicht haben es ein paar gewusst, ich habe es nicht gewusst, das mit dem zurückgetretenen Schuschnigg habe ich nicht geglaubt. Wir fuhren weiter, sind aber dann doch, mit Annäherung an die Enns, also an die oberösterreichische Grenze, einem Divisionskommando in Linz unterstellt worden. Scheinbar müssen per Funk die unterschiedlichsten Nachrichten an die Kommandanten gedrungen sein, wir sind unsicher geworden, es war Stopp. Ein Leutnant mit ein paar Mann ist nach Linz geschickt worden. Es war auch die Funkverbindung nach Linz: "Sollen wir weiterfahren, sollen wir nicht weiterfahren, sollen wir nächtigen, wenn ja, wo?" Das Ergebnis von diesem Ganzen war: Die Verlegung nicht fortsetzen, sondern das Bataillon soll in Enns - da war damals eine große Schule, die auch heute noch ist, da war Platz - nächtigen und wird dort weitere Befehle erhalten.
Ich kann mich an etwas Typisches erinnern: Vor mir ist ein Kradfahrer gefahren, ein ganz einfacher Soldat, und wie wir so gestanden sind und das dann so gekommen ist, hat er seine Maschine hingehaut und hat gesagt: "Deswegen haben wir das Ganze geschluckt und gemacht, dass die da oben scheinbar nicht weiterwissen oder nicht weiterwollen, nicht weiterkönnen." Ich will nicht behaupten, es war die einhellige Meinung, aber es war schon in den Leuten drinnen. Daraus leite ich ab, ohne es beweisen zu können: Es hätte vielleicht ein paar Befehlsverweigerungen gegeben, aber das Bundesheer hätte geschossen. Da ist für mich gar kein Zweifel. [...]
Jedenfalls, wir sind in Enns. In mir war auch ein fürchterlicher Missmut. Wir sind damals in die Kantine gegangen, ein riesiger Haufen, ein riesiger Wirbel, wir haben Hunger gehabt, gegessen, und da habe ich vom Rücktritt des Schuschnigg offiziell gehört. Ich habe selber diese Rede nie gehört, da waren wir auf der Fahrt. Ich habe meinen Ohren nicht getraut, und ich muss sagen, meine erste Reaktion - und die habe ich heute noch - war: Ich konnte dem Schuschnigg weder verzeihen noch ihn verstehen. [...]
Am nächsten Tag waren wir Offiziere befehlsgemäß um halb 8 Uhr beim Bataillonskommandanten, der uns mitgeteilt hat, dass das Bataillon entgegen dem ursprünglichen Befehl nicht weiter an die deutsche Grenze vorrückt, sondern vorerst in Enns zu bleiben hat, aber zweifellos nach der Entwicklung der ganzen Dinge - da war ja auch schon bekannt, dass Schuschnigg in seiner Schlussrede wörtlich gesagt hat, das Bundesheer solle sich zurückziehen, um ja kein Blut zu vergießen - eine Rückverlegung nach Neusiedl das Wahrscheinlichste sein wird. Die allgemeine Unsicherheit dokumentierte sich auch in einer Anfrage, die wir an das Divisionskommando in Linz gerichtet haben: "Was sollen wir tun?" Und da hat ein kluger Mann gesagt: "Jeder muss sich, so gut und rasch er kann, der neuen Lage anpassen." Und dieser Rat schien bezeichnenderweise auch im späteren Rückmarschbefehl der Division auf. [...]
Der Befehl zum Rückmarsch ist dann tatsächlich um 9.30 Uhr gekommen. Wir haben ihn als eine Erleichterung empfunden, weil er uns vor einer Situation, wo keiner gewusst hat, was er tun soll, bewahrt hat. Wir sind dann am Kasernenhof, wo es schon nur mehr Hakenkreuzfahnen gab, angetreten, und der Rückmarsch begann. Zum Unterschied von nicht einmal 24 Stunden vorher hat sich das äußere Bild der Städte und Ortschaften, die wir durchfuhren, die heutige Bundesstraße 1, ich weiß nicht, wie sie damals geheißen hat, völlig geändert gehabt. Es war bereits überall der neue Flaggenschmuck. Es gab Hakenkreuzfahnen noch und nöcher. Und die Leute, die - ich habe das schon geschildert - sich bei unserer Verlegung am Vortag unterschiedlich verhalten haben, haben sich jetzt eigentlich einheitlich verhalten. Sie haben uns mit Applaus und freundlichen Zurufen begrüßt. Es könnte auch sein, dass sie uns für erste deutsche Truppen gehalten haben. Das weiß ich natürlich nicht, warum. Ich habe keinen gefragt: "Warum seids heut so freundlich?" Aber irgendwie war es auffallend, denn warum sollte man letztlich einem Bundesheer zujubeln, das, offenkundig ohne die Aufgabe, die es zu erfüllen gehabt hätte, zu erfüllen, sich wieder zurückgezogen hat. Bei Blindenmarkt war auf einmal die Straße verstellt. Einige Aufklärungsfahrzeuge, die wir nach guter militärischer Art vorausgeschickt hatten, kamen zurück: "Das sind dieselben wie gestern, die uns da aufhalten wollten. Dieselben Leute stehen jetzt wieder dort." Ich selbst war ja am Tage vorher nicht vorne. Der eine hat sich als der neue Bürgermeister deklariert und hat die Auslieferung jener Soldaten verlangt, die sich am Vortage durch Tätlichkeiten "Übergriffe" geleistet hatten. Unser Bataillonskommandant - das war immer ein sehr energischer Mann - ist hin. [...] Er hat sehr energisch Fortsetzung der Fahrt befohlen, und die Leute, fluchend, schimpfend zwar, haben die Straße geräumt, und zwar ohne Ohrfeigen diesmal, und wir fuhren weiter.
Irgendwie, und das kann ich jetzt nach Jahrzehnten nicht beschönigen, hat in dem Bataillon eine große Niedergeschlagenheit geherrscht, eine Niedergeschlagenheit, die - soweit ich das aus meinem damaligen Blickfeld beurteilen kann - irgendwie das ganze Bundesheer betroffen hatte. Denn letztlich ist es nicht ohne Auswirkungen, ohne Spuren geblieben, wenn man jetzt drei, vier Jahre tätig war: "Österreich kein nationalsozialistischer Staat ..." Das ist einem in Fleisch und Blut übergegangen. [...] Und da muss ich jetzt schon etwas sagen: Da sind mir zum ersten Mal - ich glaube, das war vorher nicht - Bedenken gekommen. Irgendetwas muss an dem Staate doch faul oder fauler gewesen sein, als ich es wahrgenommen habe, denn normalerweise bricht ja ein Staat nicht binnen drei, vier Stunden so zusammen, wie es der Ständestaat Österreich getan hat. Da kamen mir erste Zweifel an der Richtigkeit unserer Ideale. [...]
Es ist ja kein Ruhmesblatt für den Österreicher. Der Österreicher ist leider - gar nicht nur bei den Nazis, es hat auch andere Situationen gegeben - ein sehr großer Opportunist. Ich bin ja auch Österreicher. Sie sehen, wenn da steht, jeder soll sich, so rasch er kann, der neuen Lage anpassen, so ist das letztlich auch nichts anderes. [...]
Je mehr wir uns auf diesem Rückmarsch Wien genähert haben, um so belebter sind die Straßen geworden [...] und die Stimmung der Bevölkerung hat so etwas Volksfestartiges gehabt. Von den Leuten ist wahrscheinlich keiner arbeiten gegangen. Die Straßen waren voll, und es hat mehr oder weniger - was ich halt gehört habe - Heiterkeit geherrscht. Das war so typisch im Gegensatz nicht nur zu meinen persönlichen Gefühlen, sondern auch in diesem Bataillon. Wir sind da durchgezogen, wie man Gefangene durch ein Spalier von Siegern durchführt. Ungefähr so sind wir uns vorgekommen.
In Wien ist mir zum ersten Mal ein Stimmungsbild aufgefallen, und zwar gab es da fast ein West-Ost-Gefälle. In den westlichen Bezirken, Mariahilfer Straße, bot sich uns ein Bild, durchaus vergleichbar mit dem, was wir schon ab Enns in steigendem Maße erlebt hatten, und dann, wie wir aber durch Simmering über den Rennweg durchgekommen sind, waren auch auffallend viele Leute auf der Straße, doch verhielten die sich gemischter. In diesem Ostteil von Wien herrschte statt des Jubels Ruhe, eine Ruhe, die uns angesichts des Kontrastes fast wie eine Niedergeschlagenheit vorkam. Wir hatten das Gefühl - zuerst habe ich es nur für mich gehabt, aber dann in Neusiedl hat sich das im Gespräch mit Kameraden bestätigt -, dass in diesen Leuten Ähnliches vorgegangen ist wie in uns. Und das werde ich auch nie vergessen: Anlässlich eines verkehrsbedingten Haltes stand neben mir auf der Straße ein Mann, dem Äußeren nach ein Arbeiter oder so etwas, und hat wörtlich gesagt: "Herr Leutnant, warum habt ihr uns im Stich gelassen?"
Wir sind weitergefahren Richtung Neusiedl. In den kleineren Gemeinden wie Bruck war dann das Bild wieder so wie in Niederösterreich. Jeder hat sich bemüht, ja durch eine Hakenkreuzfahne seine Umstellung zu dokumentieren. In Neusiedl sind wir freundlich empfangen worden, man hat ja nicht gewusst, kommen wir lebendig zurück oder nicht. [...]
Wir waren, schon aus Neugierde, viel im Offizierskasino, um Rundfunk zu hören. Unter den Offizieren gab es auch einen Leutnant "mosaischen Glaubensbekenntnisses". Das war ein hoch dekorierter Unteroffizier aus der k. u. k. Armee, der es dann im Bundesheer durch Kurse und so zum Offizier gebracht hat und der der tägliche Billard-Partner - nach dem Essen haben sie am Abend immer gespielt - eines damaligen Majors war. Und dieser Major hat auf einmal - wir haben geglaubt, wir fallen vom Stockerl runter, wir haben gerade gegessen - sich an den Bataillonskommandanten gewandt und gesagt: "Ich finde es als eine Zumutung, dass wir hier mit einem Juden zusammen essen." Der hat ihn groß angeschaut. Ausgerechnet der, der mit ihm immer gespielt hat, der sozusagen sein Freund war. [...] Da haben wir dann - oder ich - gespürt, jetzt ist eigentlich etwas zerbrochen in diesem Offizierskorps, was man vorher gar nicht für möglich gehalten hätte. Sehr bekömmlich war das Essen nicht. Auf einmal kommt eine Ordonnanz herein und meldet dem Bataillonskommandanten: "Draußen sind Leute von der Gestapo." - "Was wollen die?" Na, die wollten die Auslieferung dieses Offiziers, und der wurde ihnen dann auch übergeben. Ich glaube, das Essen ist allen damals sehr im Magen liegen geblieben.