Stella Kadmon, geb. 1902 in Wien. Schauspielstudium, Schauspielerin und Sängerin. 1931 Mitgründerin der Kleinkunstbühne "Der liebe Augustin", gemeinsame Arbeiten u. a. mit Peter Hammerschlag und Gerhart H. Mostar. 1938 Flucht nach Belgrad, 1939 nach Palästina, 1940-1942 Direktorin des Kabaretts "Papillion" in Tel Aviv. 1942-1946 Arbeit beim "Free Austrian Movement".
1947 Rückkehr nach Wien, 1948-1981 Leitung des Theaters der Courage.
Verstorben 1989.
Bis zum 11. März 1938 waren noch böse Jahre, und dann sollte doch diese Volksabstimmung [gemeint ist die für den 13. März 1938 geplante Volksbefragung] sein, die dann verboten wurde. Wir sind bei uns im Keller im "Lieben Augustin" gesessen, haben gezittert und geweint und waren todunglücklich. Wenig Publikum war da. Die Leute haben sich nicht mehr auf die Straße getraut. Nach der Vorstellung am 10. März sind wir mit unserem Hausbesorger, der gleichzeitig derjenige war, der im Theater geholfen hat, alles gemacht hat, nach Hause gegangen. Er war arbeitslos und froh, dass er uns helfen konnte, und hat wirklich alles gemacht: Tischlerarbeiten und Vorhangziehen. Wir haben ihn riesig gerne gehabt, weil er so ein netter Kerl war.
Am 11. März, als wir nach Hause gehen, schließt er sich uns an, also Mutti und mir, und sagt: "Darf ich die Damen nach Haus begleiten. Es ist heute nicht ganz geheuer auf der Straße." Sage ich: "Das ist reizend von Ihnen. Oh bitte, bitte begleiten Sie uns." Dann sagt er: "Ich muss Ihnen ein Geständnis machen. Ich bin seit 1933 Mitglied der illegalen Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei." Um Gottes willen. Meine Mutti sagt: "Herr Wiesinger, ich habe Sie für einen anständigen Menschen gehalten!" Ich habe sie gleich gestoßen und habe gesagt: "Wissen Sie, Herr Wiesinger, meine Mutter ist so eine Österreicherin durch und durch, und sie hat so ein Gefühl, wenn der Hitler kommt, dann werden wir Österreich verlieren." Sagt er: "Aber was fällt Ihnen ein! Der Führer ist doch selber ein Österreicher. Die Piefke werden es schlecht haben, aber Österreich, das wird groß und mächtig. Es wird keine Arbeitslosen mehr geben, es wird herrlich." So hat man die Österreicher gefangen, die Blöden.
Wir sind natürlich nicht mehr ins Theater gegangen, wir sind zu Hause gesessen, und der liebe Herr Wiesinger, muss ich sagen, ist immer hinaufgekommen: "Jetzt nicht weggehen, jetzt ist eine Razzia." Er hat mich von dem "Aufreiben" verschont. Die Gäste vom Theater, die haben alle gedacht, um Gottes willen, was wird denn mit der Kadmon geschehen, und haben mich angerufen: "Weg, weg! Für Sie ist es gefährlich, weil Sie haben öffentlich Stellung genommen." Na ja, wir sind aber nicht weg, weil meine beiden Brüder verhaftet worden sind. Aus keinem bestimmten Grund - sie sind ganz einfach verhaftet worden. Plötzlich sind sie aber wieder entlassen worden ... Wieso? Einer der Polizeiräte, der bei mir Zensurdienst gehabt hat, war auch ein illegaler Nazi. Der hat eine schöne Stellung im Gestapo-Haus gehabt, eine Beamtenstellung. Er hat eine Liste bekommen, wer vom Landesgericht nach Dachau ins KZ kommt. Er hat den Namen Kadmon auf der Liste gesehen, mich angerufen, und ich habe ihm gesagt, dass das meine Brüder sind. Er hat sie von der Liste gestrichen und sie sind freigelassen worden.
Fritz Schrecker ist zu mir auf Besuch gekommen. Auf einmal hört man auf der Straße ein Geschrei und Kommandotöne, wir sahen aus dem Fenster und da stand unser "lieber" Hausmeister in SA-Uniform. Der hat Dienst gehabt und hat Männer, die gekommen sind, die einen Bart gehabt haben, am Bart gezogen, sie gestoßen, hat ihnen eine Tafel in die Hand gegeben, wo daraufgestanden ist "jüdisches Geschäft". Damit mussten sie vor einem jüdischen Geschäft stundenlang stehen. Der Fritzl Schrecker schaut aus dem Fenster und schreit: "Mit meinen Handschuhen!" Da hat der nämlich die Handschuhe angehabt, die er ihm zu Weihnachten geschenkt hat. Das war ein Wahnsinn.
Wir haben von Religion nichts gewusst. Wir sind eine sehr moderne Familie gewesen. Die Eltern waren nicht religiös, schon die Großeltern nicht. Gottlose Gesellschaft. Dann hat uns Palästina das Leben gerettet.
Mein erstes Theater, das ich in Palästina machte, musste in hebräischer Sprache sein. Da habe ich Hebräisch gelernt wie wahnsinnig. Ich habe mein Chanson fließend gebracht, ohne Akzent und mit richtiger Betonung. Das war eine große Feier für die Spitzen der Behörden in Tel Aviv. Eine Einwanderin, die erst ein Jahr da ist und schon ein hebräisches Kabarett in hebräischer Sprache macht. Ich wurde zum Bürgermeister zum Tee eingeladen. Der Bürgermeister hatte in Zürich studiert und perfekt Deutsch gesprochen. Seine Frau war eine Deutsche aus Mainz, also es wurde Deutsch gesprochen. Im Laufe des Nachmittags sagt mir der Bürgermeister: "Woher haben Sie Ihren herrlichen hebräischen Namen?" Sage ich: "Verzeihen Sie, was heißt woher? Von meinem Vater." "Sie haben den Namen nicht hebräisieren lassen?" "Nein, mein Großvater hat so geheißen, mein Urgroßvater, wir sind Sepharden." [...]
Auf der Flucht war ich in Belgrad bei der Familie meines Vaters, und ein Cousin - es war noch kein Krieg, das war 1938, vielleicht im November, und da konnten die Jugoslawen mit ihrem jugoslawischen Pass nach Österreich - sagte zu mir: "Nächste Woche fahre ich nach Wien, deinem schönen Wien." "Nach Wien fährst du? Joschi, ich bitte dich, geh ins Café 'Prückel', verlang dort den Ober Thomas und richte ihm von mir Grüße aus, er war so ein lieber Kerl, und sag ihm, dass ich bei euch bin. Der hat das Theater gekannt. Und überhaupt, er soll dich hinunterführen. Ob dort gespielt wird? Ob dort Nazis sind?" Mein Cousin kam nach Wien, setzt sich ins Café "Prückel" und fragt nach dem Ober Thomas. Der kommt. "Sie sind der Ober Thomas, ich soll Ihnen schöne Grüße ausrichten von meiner Cousine, der Stella Kadmon." "Jessas, die Stellerl! Sie ist gerettet, sie lebt? Wo ist sie?" "Sie ist in Belgrad, bei uns." "Da ist sie gerettet, da kommt sie bald zu uns. Die Hitlerei wird nicht lange dauern", hat er gesagt. Dann hat er ihn hinuntergeführt, hat ihm meinen Schminktisch gezeigt und hat die ganze Schminke in einen Sack hineingegeben, die hat mein Cousin mir dann mitgebracht. Dann hat der Thomas gesagt: "Sehen S' den Vorhang, was hat sich das Fräulein Stella gesorgt. Die Polizei hat einen reinen Schafwollvorhang verlangt, weil der schwer brennbar ist, und sie haben doch kein Geld gehabt. Aber dann hat sie doch irgendwie das Geld zusammengebracht und hat den schönen roten Plüschvorhang gekauft." Nimmt ein Taschlmesser heraus, schneidet so ein Eck von dem Vorhang heraus, aber von der Seite. "So, das bringen S' ihr und sagen ihr, das ist ihr Vorhang und sie kriegt wieder ihr Theater, und es dauert nimmer lang."