Siegmund Hirsch, geb. 1915 in Wien, wächst als Pflegekind bei Waldviertler Bauern auf. Jus-Studium in Wien, Mitglied beim Katholischen Deutschen Studentenbund und beim Cartell-Verband, zur Finanzierung des Studiums Unterricht in einer so genannten Werkschule. 1938 wegen jüdischer Abstammung von der Universität ausgeschlossen. Kontakte zu Widerstandszirkeln im Waldviertel, Hilfe für dort eingesetzte französische Zwangsarbeiter, 1941 verhaftet und am 16. November 1942 nach dem "Heimtückegesetz" zu 1 Jahr Gefängnis verurteilt. Haft bis Kriegsende in diversen Gefängnissen und Konzentrationslagern, darunter Auschwitz, Buchenwald und Theresienstadt.
Nach Kriegsende Fortsetzung des Studiums, 1949 Eintritt in den österreichischen Finanzdienst, ab 1964 Österreichisches Statistisches Zentralamt.
Verstorben 1995.
Nach der Volksschule besuchte ich das Realgymnasium in Waidhofen a. d. Thaya und maturierte im Jahre 1936. Während dieser Studentenzeit war ich im katholischen Lager beheimatet und führte eine Gruppe des Katholischen Deutschen Studentenbundes, einer Teilorganisation des damaligen Reichsbundes.
Es hat damals in den Schulen natürlich auch deutschnationale Einstellungen gegeben, doch muss ich sagen, dass der Großteil des Lehrkörpers konservativ, katholisch, zum Teil auch im katholischen Bereich organisiert war und einige Sozialisten waren. Die Schüler teilten sich damals schon fast in zwei Lager, und zwar in ein nationales und ein christliches Lager. Im nationalen Lager waren meist Söhne von bürgerlichen Leuten, meist sogar von Bundesbediensteten, die, wie die Söhne selbst, soziale Sorgen nicht kannten. Das christliche Lager hingegen - unter der Schülerschaft - bestand aus bäuerlichen Kreisen, aus Beamtenkreisen und auch aus Arbeiterkreisen. Einen ausgesprochenen Sozialisten gab es damals innerhalb der Schülerschaft aber nicht. Natürlich gab es Auseinandersetzungen in den politischen Fragen zwischen den beiden Gruppen, jedoch blieben sie so geartet, dass es in keine Brutalität mündete. [...]
Der Februar 1934 war für uns alle ein schockierendes Erlebnis. Es gab zwar nicht viele Industriebetriebe im Gebiet, doch gab es sozialistische Zentren, vor allem im Bereich von Groß-Siegharts und Dietmanns. Die Menschen in diesen Gebieten nahmen aber an einem aktiven Widerstand nicht teil. Es blieb also relativ ruhig, wenn es auch damals Verhaftungen gegeben haben dürfte. Die Bevölkerung innerhalb dieses Waldviertler Bezirkes, Waidhofen a. d. Thaya, war zum Großteil christlichsozial bzw. später im Sinne der Vaterländischen Front ausgerichtet. Einen beträchtlichen Teil allerdings, vor allem in der Stadtbevölkerung, bildeten die Großdeutschen bzw. die Nationalsozialisten. Sie traten bereits in den beginnenden dreißiger Jahren mit Provokationen deutlich hervor und zeigten sich als eine Bedrohung des vaterländischen oder damaligen Österreich-Bewusstseins.
Die politischen Verhältnisse waren natürlich auch von der sozialen Lage und der Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Es gab, vor allem im Industriebereich Groß-Siegharts und Dietmanns, viele Arbeitslose, und auch in den umliegenden Orten ging, da die Bautätigkeit stagnierte, der Beschäftigungsstand jener Kleinbauern, die praktisch nur Nebenlandwirte waren, zurück. [...]
Nach der Matura ging ich im Herbst 1936 nach Wien, um das Jura-Studium zu beginnen. Ich hatte mir mit bescheidenen Ersparnissen aus meiner Unterrichtstätigkeit [Nachhilfestunden] ein kleines Anfangskapital geschaffen und suchte in Wien weiter eine solche Unterrichtstätigkeit als Hofmeister, wie man es manchmal nannte, fortzusetzen. Entgegen kam mir der Umstand, dass ich damals in einem katholischen Kolpinghaus in der Gentzgasse wohnen konnte, wo der Versuch gemacht wurde, eine Wohngemeinschaft zwischen Studenten und Handwerksgesellen aufzubauen bzw. ein Zusammenleben, eine Integration der Jugend in diesem Sinne zu versuchen. [...]
Im selben Jahr trat ich auch dem katholischen Cartell-Verband, und zwar der Verbindung Alpenland bei. Etwas Interessantes möchte ich hiebei erwähnen, dass meine Freunde, die mich dort aufnahmen, wussten, dass ich "jüdisch versippt" war. Es wurde also hier faktisch und ausdrücklich der "Arierparagraph", der im CV herrschte, umgangen. [...] Diese Verbindung war, das kann man mit gutem Gewissen sagen, wenig unterwandert von Nationalen. Es gab nur einzelne Fälle, bei denen sich nach dem so genannten Umbruch herausstellte, dass sie Nationalsozialisten waren oder es geworden sind. [...]
Dramatisch wurde die Lage für uns alle mit dem Februar [1938], dem Abkommen zwischen Hitler und Schuschnigg in Berchtesgaden, wenn hier der Begriff "Abkommen" überhaupt gerechtfertigt ist und nicht eher das Wort "Diktat" der richtige Ausdruck wäre. In diesen Tagen stiegen alle Emotionen hoch, und ich würde sagen, die Menschen zeigten ihr wahres Gesicht. Sowohl innerhalb des CV wie auch innerhalb der Kolpingverbände, in deren Bereich ich ja lebte, war eine echte Aufbruchstimmung, und es zeigte sich darin, wie echt die Gefühle waren bzw. wie weit die Erosion durch den Nationalsozialismus bereits gegriffen hatte. Doch muss ich bei aller Objektivität sagen: Für mich war das Überraschende, dass in diesen Tagen die ehemaligen Sozialdemokraten bzw. deren jüngere Exponenten und die jüngeren Vertreter der christlichen Verbände stark einen Weg der Einigung anstrebten. Ich möchte hier nur die Gespräche erwähnen, die Friedrich Heer, den ich ja auch aus meiner Studienzeit kannte und der auch ein CVer war, mit jüngeren sozialistischen Politikern führte - damals sozusagen ein Gespräch der "Feinde".
Auch innerhalb der Kolpingbewegung war der Großteil der jungen Menschen österreichbewusst. Besonders aber erstaunt und erfreut war ich, als ich in unserer Werkschule von der faktischen Aufnahme der Verbindung des Arbeitszentrums Floridsdorf mit der christlichen Jugend und mit Exponenten des Katholizismus erfahren habe. Es war allerdings, wie sich herausstellte, vergeblich; aber es war tatsächlich damals, in dieser Zeit, ein Sprung über die Grenzen, ein Ausbrechen aus den alten Denkkreisen, zustande gekommen.
In den kritischen Februartagen, als die politischen Wogen besonders aufbrachen, waren alle, die sich damals Österreicher nannten, bemüht, für ihre Sache einzutreten. Den nationalsozialistischen Demonstrationen wurden Aktionen entgegengestellt. Die gingen auch vom CV aus, der damals ein Studentenkorps zusammenstellte, das auch im Ernstfall sich unter ein Waffenkontingent der damaligen Exekutivträger einbinden sollte.