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MOMENTAUFNAHME: Frieda Nossig

Ältere Menschen im Ghetto Theresienstadt

Wolfgang Schellenbacher

 

Frieda Nossig. Foto: Privatbesitz

Das Foto der damals 61-jährigen Frieda (Friederike) Nossig – sie sitzt in sommerlicher Kleidung auf einer Wiener Parkbank und streichelt einen Hund – wurde 1935 von ihrem Schwiegersohn aufgenommen. Wie Tausende andere ältere österreichische Jüdinnen und Juden wurde Frieda Nossig in das Ghetto Theresienstadt deportiert, wo sie im November 1942 verstarb. Das Foto wurde dem Eintrag Frieda Nossigs in der Online-Opferdatenbank des DÖW hinzugefügt.

 

Das Ghetto Theresienstadt wurde für österreichische Jüdinnen und Juden zu einem der zentralen Orte des Leidens und des Todes im Holocaust. Ab Juni 1942 wurden insgesamt 15.260 Jüdinnen und Juden aus dem heutigen Österreich nach Theresienstadt deportiert. Nur 1720 Personen von ihnen überlebten die Haft im Ghetto sowie die erneuten Deportationen in den Osten. (1) Insgesamt wurden über 140.000 Menschen in das Ghetto deportiert, wo zwischen 1941 und 1945 mehr als 30.000 starben. Weitere 88.000 wurden von dort weiter in die Ghettos und Vernichtungslager im Osten deportiert, aus denen nur rund 4000 Personen zurückkehrten.

 

Im Mittelpunkt vieler Beschreibungen des Ghettos stehen das herausragende kulturelle Leben, die Erziehung von Kindern und der Missbrauch des Ghettos für NS-Propagandazwecke. Dies verdeckt oftmals die harte Realität der Lagerbedingungen und die Hoffnungslosigkeit im Ghettoalltag, denen vor allem Ältere und Kranke ausgesetzt waren: Hunger, Krankheit und Tod, die ständige Angst vor einer Einreihung in einen Transport in den Osten und beengte, unhygienische Verhältnisse prägten das Leben der Häftlinge Theresienstadts. Ältere Menschen, von denen viele auf kalten Dachböden der ehemaligen Kasernen oder Stallungen untergebracht waren, erlagen den Krankheiten und dem Hunger am schnellsten. (2)

 

Frieda Nossig wurde am 23. August 1874 in Prag als Friederike Bondy geboren. 1904 heiratete sie in Wien den Maler und Anstreicher Moses Nossig und bekam vier Jahre später ihre einzige Tochter Herta. Die Familie wohnte in der Schopenhauerstraße 72 in Wien-Währing. Das Foto entstand etwa ein Jahr vor dem Tod von Frieda Nossigs Ehemann, der 1936 mit 65 Jahren im Allgemeinen Krankenhaus in Wien verstarb.

 

Fünf Jahre später lebte die nunmehr 66-jährige Frieda Nossig in einem Altersheim in der Alxingergasse 97-103 in Wien-Favoriten. Hier befand sich ab Oktober 1941 in den Räumlichkeiten eines ehemaligen Obdachlosenheims der Stadt Wien ein jüdisches Altersheim der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG). Da die jüdischen BewohnerInnen ab Sommer 1938 aus nicht-jüdischen Altersheimen ausgeschlossen wurden und die Vertreibung jüngerer Jüdinnen und Juden den Altersdurchschnitt der in Wien zurückgebliebenen jüdischen Bevölkerung erhöhte, musste die IKG Wien diese Personen in völlig überfüllten jüdischen Altersheimen wie in der Alxingergasse, der Seegasse oder der Radetzkystraße unterbringen.

 

Erst mit dem Einsetzen der Deportationen in das Ghetto Theresienstadt ab dem Sommer 1942 verringerte sich auch die Anzahl älterer Jüdinnen und Juden in Wien. Am 28. Juli 1942 wurde auch Frieda Nossig zusammen mit weiteren 114 BewohnerInnen des Altersheims in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Nach Abschluss der Deportationen wurde das Altersheim in der Alxingergasse im September 1942 geschlossen. (3)

 

Im Zuge der am 20. Jänner 1942 unter der Leitung Reinhard Heydrichs abgehaltenen Wannsee-Konferenz, bei der die Organisation des bereits begonnenen Massenmords an den europäischen Juden geplant wurde, wurde auch auf die zukünftige Rolle Theresienstadts bei der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden eingegangen. (4) Dabei wurde festgelegt, dass über 65 Jahre alte Jüdinnen und Juden nicht "in den Osten", sondern in ein "Altersghetto" deportiert werden sollten. Vorgesehen wurde für diese Pläne Theresienstadt.

 

Ab Juni 1942 trafen die ersten Transporte aus dem Deutschen Reich in Theresienstadt ein. Diese Transporte veränderten nicht nur die nationale Zusammensetzung der Häftlinge, sondern auch deren Altersdurchschnitt. Die ersten nach Theresienstadt deportierten Personen im sogenannten "Aufbaukommando" Ende November 1941 hatten noch einen Altersdurchschnitt von ca. 31 Jahren, jene im ersten halben Jahr aus dem Protektorat Böhmen und Mähren nach Theresienstadt Deportierten waren im Durchschnitt 46 Jahre alt. Die Transporte aus Berlin und München wiesen einen Alterdurchschnitt von 69 Jahren, die Transporte aus Wien von 73 Jahren auf. (5) Im Juli 1942 waren dadurch bereits 44,7 % aller Häftlinge Theresienstadts über 65 Jahre alt. (6)

 

Derartige demographische Veränderungen machten auch der "Jüdischen Selbstverwaltung" des Ghettos deutlich, dass Theresienstadt zunehmend als Alters- und Dezimierungsghetto angedacht wurde. Als Folge wurden neben anderen Einrichtungen auch das Siechen- bzw. Altersheim ausgebaut. Trotzdem blieben die Lebensbedingungen und der Gesundheitszustand von alten und hilfsbedürftigen Menschen über die gesamte Dauer des Ghettos hindurch katastrophal. Alice Randt, die in Theresienstadt u. a. in sogenannten "Siechenstuben" als Krankenschwester arbeitete, beschrieb nach dem Krieg die dortigen Zustände:

 

"Aus Deutschland und Österreich wurden nun die Insassen aller jüdischen Krankenhäuser, Siechen- und Altersheime [...] nach Theresienstadt überführt. Herzzerreißend waren diese ankommenden Transporte, [...] die, statt Erbarmen und Hilfe zu finden, nun ins bitterarme Elend hinausgestoßen wurden, um im Dreck durch Hunger und Kälte zu verrecken." (7)

 

Nur ein Teil der älteren Häftlinge fand jedoch Platz in einem der Alters- und Siechenheime. Frieda Nossig kam am 29. Juli 1942 in Theresienstadt an. Wie fast alle Deportierten war ihre erste Station im Ghetto die sogenannten "Schleuse", wo persönliche Gegenstände durchsucht wurden und die Deportierten bis zur Zuteilung einer dauerhaften Unterkunft untergebracht waren.

 

Auch Frieda Nossig wurde nicht in eines der großen Altersheime im Ghetto eingewiesen, sondern lebte im Block L 408 in der Hauptstraße 8 im Ghetto. In derartigen Häuserblocks waren ältere Menschen im Herbst 1942 in nicht adaptierten Dachböden ohne Pflege untergebracht, wo jegliche sanitäre Einrichtungen und Schlafgelegenheiten fehlten und sich Ungeziefer wie Läuse und damit auch Infektionskrankheiten am schnellsten verbreiteten. Alice Randt beschrieb die Zustände in diesen Unterkünften:

 

"Vierundzwanzig Menschen, nein Unglückshäuflein, lagen verstreut auf dem noch ungekehrten, völlig verdreckten Fußboden in ihren Kleidern, mit Hut und Mantel, ohne Bettzeug, einfach so hingeworfen. Alles waren es Leute zwischen 70 und 90 Jahren [...]. Alles schrie nach Hilfe, nach Nachtgeschirr (das wir nicht hatten)." (8)

 

Dementsprechend hoch lag die Sterberate bei den über 65-Jährigen wie Frieda Nossig. Die Einteilung der Essensrationen in "Nichtarbeiter", "Arbeiter" und "Schwerstarbeiter" verschärfte die Situation für Ältere: Da Personen, die über 65 Jahre alt waren, nicht mehr arbeiten durften, waren auch deren Essensrationen geringer. Zusätzlich litten ältere Personen, denen oftmals ein Lebensabend in "Bad Theresienstadt" versprochen worden war, besonders stark unter einem "Aufnahmeschock", den sie angesichts der katastrophalen Bedingungen nach ihrer Ankunft im Ghetto erlitten.

 

Die eintreffenden Transporte aus dem "Großdeutschen Reich" führten rasch zu einer Überfüllung des Ghettos. Am 18. September 1942 erreichte der Häftlingsstand mit 58.491 Personen den Höchststand. (9) Mit dem Höchststand der Häftlingszahlen erreichte auch die Mortalität ihren Höhepunkt. Der Platzmangel und die ungenügende hygienische Versorgung führten zu Krankheiten und Seuchen, denen die spärlich ausgestatteten medizinischen Einrichtungen Theresienstadts nicht gewachsen waren. Allein zwischen August und Oktober 1942 starben 10.364 Häftlinge. (10)

 

Gleichzeitig gingen bereits im Sommer und Herbst 1942 19 Osttransporte aus Theresienstadt ab, mit denen nun vor allem alte und arbeitsunfähige Personen deportiert wurden. Ein anschließend einsetzender kontinuierlicher Rückgang der Sterblichkeit ist daher nicht auf eine Verbesserung der Haftbedingungen im Ghetto, sondern auf die hohe Sterblichkeit der über 65-Jährigen im Sommer 1942 sowie deren Deportation zurückzuführen. Der Herbst 1942 und der Winter 1943 bildeten die schwierigste Zeit für die Häftlinge Theresienstadts. Der Februar 1943 brachte auch angesichts eines ausgesprochen kalten Winters mit 13.672 Personen den Höchststand an Kranken. Dies waren 31,3 % der 43.683 InsassInnen des Ghettos. (11)

 

Auch Frieda Nossigs Ableben in Theresienstadt fiel in diese Zeit: Sie starb – nicht ganz vier Monate nach der Ankunft – am 21. November 1942 um 6 Uhr morgens in ihrer Unterkunft in der Hauptstraße 8. Der behandelnde Arzt Dr. Emerich Gold gab als Todesursache "Herzschlag" an. Ihre Todesfallanzeige aus Theresienstadt zeigt auch, dass die verwitwete Frau weder Angehörige im Ghetto noch im Protektorat Böhmen und Mähren hatte und somit wie viele der Älteren auch wohl keine Unterstützung durch soziale Netzwerke vor Ort erhielt. Lediglich Frieda Nossigs Tochter, Herta Proft, deren Ehemann als "Arier" galt, überlebte den Holocaust in Wien.

 

Anfang 1943 war ein Großteil der über 65-Jährigen, die im Sommer 1942 nach Theresienstadt deportiert worden waren, bereits verstorben oder in die Vernichtungslager deportiert und dort ermordet worden. (12)

 

Der Alltag und die Lebensbedingungen von älteren Menschen im Ghetto Theresienstadt wurde oft nur am Rande untersucht; (13) auch weil gerade ältere Menschen entweder aus dem Ghetto weiter in die Vernichtungslager deportiert wurden oder wie Frieda Nossig den Haftbedingungen im Ghetto erlagen. Die hohe Sterblichkeit unter den älteren Häftlingen zeigt sich auch in der Statistik: Das Durchschnittsalter der in Theresienstadt umgekommenen österreichischen Häftlinge lag bei 72,76 Jahren. (14) Damit konnte diese Personengruppe auch nicht mehr Zeugnis über ihre unerträgliche Situation im Ghettoalltag ablegen. Einen Beitrag zur Untersuchung dieser Gruppe kann die Rekonstruktion der Lebensdaten von Personen wie Frieda Nossig anhand der Opferdatenbanken des DÖW leisten. Personenbezogene Fotos aus der Vorkriegszeit wie das eingangs abgebildete, das durch die Enkeltochter Frieda Nossigs an das Archiv des DÖW übermittelt wurde, werden der Online-Datenbank des DÖW beigefügt. Sie ermöglichen es, durch einen Blick auf ein privates Leben in einer gewohnten Alltagsumgebung auch jenen nicht prominenten, älteren Opfern ein Bild zu geben, die in der Forschung meist unberücksichtigt blieben.

 

 

Anmerkungen

 

1) Siehe: Opferdatenbanken des DÖW.

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2 ) Vojtěch Blodig, Alltag im Theresienstädter Ghetto, in: Institut Theresienstädter Initiative, Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Theresienstädter Gedenkbuch. Österreichische Jüdinnen und Juden in Theresienstadt 1942–1945, Prag 2005, S. 39–52, hier: S. 45.

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3) Altersheim der IKG Wien, Alxingergasse 97, 1100 Wien. Siehe: Memento Wien, www.memento.wien/address/629/ (17. Februar 2021).

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4) Vgl.: Besprechungsprotokoll der Wannsee-Konferenz vom 20. Jänner 1942, in: Peter Longerich, Die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942. Planung und Beginn des Genozids an den europäischen Juden, Berlin 1998, S. 69–88.

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5) Otto Zucker, Die Geschichte des Ghettos Theresienstadt 1941–1943. Jüdisches Museum in Prag (ŽMP), Sign. SHOAH/T/3/344/001/001; bzw.: Yad Vashem, Sign. O.64/7 – 45.

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6) Statistik der Altersgliederung des Ghettos Theresienstadt. Yad Vashem, Sign. O.64/54 – 4.

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7) Manuskript des Buches Alice Randt, Die Schleuse, 3 Jahre Theresienstadt. Yad Vashem, Sign. O64/104 – 37.

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8) Ebenda.

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9) Tagesstand ab 24. November 1941. Yad Vashem Sign. O.64/33.

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!0) Miroslav Kárný, Vojtěch Blodig, Margita Kárná (Hg.), Theresienstadt in der "Endlösung der Judenfrage", Prag 1992, S. 23.

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11) H. G. Adler, Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, Tübingen 1960, S. 696.

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12) Martin Niklas, "... die schönste Stadt der Welt". Österreichische Jüdinnen und Juden in Theresienstadt, Wien 2009, S. 49.

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13) Ausnahme bildet für Theresienstadt v.a.: Anna Hájková, Mutmaßungen über deutsche Juden: Alte Menschen aus Deutschland im Theresienstädter Ghetto, in: Andrea Löw, Doris L. Bergen, Anna Hájková (Hg.), Alltag im Holocaust. Jüdisches Leben im Großdeutschen Reich 1941–1945 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 106), München 2013, S. 179–198.
Für andere Lager bzw. für eine breitere Analyse der Situation älterer Menschen im oder nach dem Holocaust in den letzten Jahren siehe etwa: Elizabeth Anthony, The Compromise of Return. Viennese Jews after the Holocaust, Detroit 2021; Dan Stone, "Somehow the pathetic dumb suffering of these elderly people moves me more than anything": Caring for Elderly Holocaust Survivors in the Immediate Postwar Years. Holocaust and Genocide Studies 32/3, Oxford Winter 2018, S. 384–403; Elizabeth Strauss, "Cast me not off in my time of old age ...": The Aged and Aging in the Lódz Ghetto, 1939–1944, Diss. University of Notre Dame, 2013.

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14) Siehe: Opferdatenbanken des DÖW.

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