Eduard Schleifer, Anna Schleifer, Alice Schleifer: "Bild der Verzweiflung"
Eduard Schleifer, geb. 9. 2. 1887
Anna Schleifer geb. Kohn, geb. 1. 8. 1898
Alice Schleifer (verheiratete Rusz), geb. 1. 6. 1922
Eduard Schleifer, Schlosser und Motorführer bei den Städtischen Straßenbahnen, lebte 1938 mit seiner Frau Anna und der gemeinsamen Tochter Alice in der städtischen Wohnhausanlage Stromstraße 74/76 – Winarskyhof (Stiege 11, Tür 10) in Wien-Brigittenau. Er wurde als Jude nach dem "Anschluss" 1938 fristlos entlassen und war in der Folge arbeitslos. Als die nationalsozialistische Wiener Stadtverwaltung Ende Juni 1938 rund 2000 Kündigungsverfahren gegen jüdische MieterInnen von Gemeindewohnungen anstrengte, wurde auch ihm die Wohnung per 31. 7. 1938 gekündigt. In seinen Einwendungen gegen die Aufkündigung bat er am 6. 7. 1938 das Bezirksgericht Leopoldstadt "auch aus sozialen Gründen" um Aufhebung der Wohnungskündigung. Nachdem ein gerichtlicher Vergleich die Räumungsfrist bis 12. 11. 1938 verlängert hatte, wandte sich Eduard Schleifer neuerlich an die Magistratsabteilung 21:
"Ich stelle nun die Bitte, mir die Räumungsfrist bis zum Jahresende erstrecken oder mir eine andere Wohnung zuweisen zu wollen [...]
Ich sowie meine Frau haben uns bemüht, zeitgerecht meinen Verhältnissen als Arbeitsloser entsprechende Kleinwohnung mit einen mir erschwinglichen Mi[e]tzins zu bekommen, doch sind unsere Bemühungen bis jetzt erfolglos geblieben, so dass ich Gefahr laufe, nach dem 12. November mit meiner Familie obdachlos zu werden."
Schleifer wurde im Zuge des Novemberpogroms 1938 festgenommen. Noch während seiner rund 4-wöchigen Haft bewilligte das Amtsgericht Leopoldstadt am 22. 11. die zwangsweise Räumung der Wohnung. Anna und Alice Schleifer mussten am 3. 12. in eine Gemeinschaftswohnung in der Taborstraße 7 in Wien-Leopoldstadt, die sie mit acht Personen teilten, übersiedeln. Dort lebte die Familie bis zur Deportation nach Kielce.
Alice Schleifer in Kielce, Februar 1942
Foto: Privatbesitz
Als eine der wenigen Überlebenden schilderte Alice Schleifer später, wie sie und andere junge Leute am Tag der Deportation zum Schrecken der übrigen Familienangehörigen mit einem Lastwagen aus dem Sammellager Castellezgasse abtransportiert wurden (sie wurden zum Aspangbahnhof gebracht und mussten dort Waggons, die für die Deportation nach Opole am 15. Februar 1941 verwendet worden waren, säubern): "Meine Eltern, die kaum mehr dachten, uns und mich wiederzusehen, waren zu dieser Zeit der Verzweiflung nahe. Sie kamen dann spät abends per Lastwagen, und so wurden wir gemeinsam in plombierten Waggons nach Polen, Ziel unbestimmt, transportiert." (Schriftliche Aufzeichnung von Alice Rusz, 19. 7. 1989)
Wenige Wochen nach der Ankunft, am 6. April 1941, berichtete sie in einem Brief über die Errichtung des Ghettos, Krankheit, Hunger und Wohnungsnot:
"Wir sind seit Samstag in einem geschlossenem Ghetto. Werde Dir in kurzen Worten erklären wie das ist: ausgeschlossen von der Aussenwelt, nur auf begrenzten Sonderstrassen, die mit Draht umzingelt sind. Kommen mit anderen Menschen nicht in Berührung. Paula wenn Du uns sehen würdest. – Es ist ein wahres Bild der Verzweiflung. Unter uns befindet sich schon der 100. Fall Flecktyphus. Paula sag'[,] haben wir uns das verdient? Wie unglücklich wir jetzt sind, ist unbeschreiblich. [...] Durch die Umsiedlung haben sich die Lebensmittel derartig verteuert. Erstens nichts zu bekommen, da wir doch eingeschlossen sind u. wenn, dann sind sie unerschwinglich. [...] Wir wohnen jetzt bei Leuten in einem Barackenzimmer[,] 7 Personen. Sie sind sehr nett. Wie Du doch weißt, sind mit uns sehr nette Wiener mitdeportiert worden, die einem das Leid manchmal leichter ertragen lassen. Werde ich noch eine Jugend haben? Esse mit einem Heißhunger die Ausspeisungssuppe. [...] Waren 2 Tage völlig obdachlos, kannst Du Dir dies vorstellen. [...] Paula ich kann nicht mehr, ich würde ins unendliche kommen."
Alice Schleifers Mutter wurde im Zuge der Liquidation des Ghettos im August 1942 nach Treblinka gebracht und ermordet. Sie selbst und ihr Vater mussten Zwangsarbeit leisten. Beide wurden Anfang August 1944 nach Auschwitz überstellt, wo Eduard Schleifer umkam. Alice Schleifer blieb bis zur Befreiung 1945 in Auschwitz und Ravensbrück in Haft.
Alice Schleifer war verheiratet mit Otto Rusz (geb. 30. 12. 1902), der sich im "Ständestaat" 1934–1938 für die verbotenen Kommunistische Partei betätigte und nach dem Novemberpogrom 1938 kurze Zeit in Haft war. 1941 wurde er mit seiner Mutter Rebekka Rusz (geb. 1. 1. 1871), die die Befreiung nicht erleben sollte, ebenfalls nach Kielce deportiert. Von dort wurde Otto Rusz im August 1944 nach Auschwitz überstellt. Er kehrte im November 1945 nach Wien zurück.
Literatur:
Herbert Exenberger / Johann Koß / Brigitte Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier. Die Vertreibung jüdischer Mieter aus den Wiener Gemeindebauten in den Jahren 1938-1939, Wien 1996.
Für diese Publikation arbeiteten die AutorInnen Akten der Magistratsabteilung 52 auf.
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