Alfred Kneucker: "... verliert die Psyche die Haltung"
Alfred Kneucker (früher: Neumann), geb. 22. 2. 1879
Der Zahnarzt Alfred Kneucker wohnte 1938 mit seiner Frau Josefine (Jozsa) Kneucker geb. Suchanek (geb. 1882) in der Währingerstraße 93 in Wien-Währing. Sein letzter Wohnort vor der Deportation war in der Schöffelgasse 37, ebenfalls im 18. Bezirk.
"Ruhigen Mutes gehe ich meiner Wege. Aber so wie irg. etwas aus früheren Zeiten mir unterkommt, dann verliert die Psyche die Haltung. So ging es mir, wie ich auspackte oder wie ich die erste Karte aus Wien bekam!" – So beschrieb Kneucker am 15. 3. 1941 in einem Brief an seine Frau seine psychische Verfassung. Vorausgegangen waren die Ankunft mit einer chaotisch verlaufenden Gepäcksausgabe und seine Bemühungen um Zulassung einer Arztpraxis:
"Das, was am meisten quälte, die ewig Sorge um das Gepäck, ist erledigt, auch den 2. Koffer bekam ich, so dass nichts verloren ging. Zu schildern aber, wie das Ganze vor sich ging, ist fast unmöglich. Ca. 4000 Koffer – dazu eine schreiende, gestikulierende nervös um das bisschen Habe aufgepeitschte Menge von etwa 1100 Menschen – ein Inferno Dantes! [...]
Was das Gesuch betrifft wegen Zulassung von etwa 24 Ärzten, so hatte ich eine W[oche end]loser Beratungen, Wege zum Bürgermeister, Kreisarzt u. s. w. in der nächsten Kreisstadt so wahnsinnig viel Arbeit, dass die Tage nur so pfeilschnell verflogen. Auch heute verging damit der Vormittag und morgen, so Gott will, geht es wieder in die Kreisstadt."
(Brief an Josefine Kneucker, 13. 3. 1941)
Kneucker beschrieb in seinen Briefen aber auch die herzliche Aufnahme durch die jüdische Familie, bei der er einquartiert war:
"Der 23-jährige Gatte Janku der jungen Hausfrau, dessen Idiom ich natürlich nicht verstehe, umhegt und umtreut mich, wie wenn ich sein liebes Kind wäre! So lieb und gut war Fred [Kneuckers Sohn] in seinem ganzen Leben nicht zu mir. Buchstäblich: Wenn ich, da ich ja derzeit noch die Mahlzeiten für die durchgeführte Operation bei anderen Leuten habe, nachhause komme, so nimmt er, der arm ist, von seinem Teller u. zwingt mich zu essen! Beim Niederlegen deckt er mich mit der Decke zu, wie eine Mutter etwa den Säugling einhüllt!! – U. s. w. Dass aber das Leben in enger, primitivster Behausung doch schwer ist, die Leute von unserer Kultur keine Ahnung haben, das muss ich halt hinnehmen in Geduld."
(Brief an Josefine Kneucker, 15. 3. 1941)
Brief von Siegfried Wollner an Josefine Kneucker über den Tod ihres Mannes, Modliborzyce, 9. 3. 1942
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Alfred Kneucker starb am 3. März 1942 in Modliborzyce. Siegfried Wollner (geb. 20. 8. 1882), der zusammen mit seiner Frau Irma (geb. 15. 1. 1883) ebenfalls nach Modliborzyce deportiert worden war, schilderte am 9. März 1942 Kneuckers Frau die näheren Umstände des Todes (auch Siegfried Wollner wurde später ein Opfer der Shoah, Irma Wollner war bereits am 8. Jänner 1942 in Modliborzyce umgekommen; ihr Sohn Gerhard überlebte im britischen Exil):
"So oft er krank war besuchte ich ihn, ernstlicher krank wurde er erst anfangs Feber; ich überbrachte ihm Lebensmittel, wie Haferflocken[,] Reis, Teegebäck Orange, alles was ich von Freunden bekam, worüber er sich sehr freute; trotzdem arbeitete er noch, am 14/II. ließ er sich für die Erkennungskarte fotographieren, wobei er sich durch das lange Warten und den Aufregungen eine Herzneurose zuzog. [...] Am Dienstag erlaubte er mir bei ihm zu übernachten, ich dachte noch immer an eine Besserung […] um 21.45 schrie er dreimal hintereinander laut auf, da trat sein Tod ein. Um 22.15 weckte ich Fr. D. S. auf und mußte ihr leider verkünden, daß Herr Medizinalrat nicht mehr am Leben ist; ich drückte ihm die Augen zu und verband ihm das Gesicht und wachte bei seinem Totenbette bis 7 h."
Kneuckers Sohn, der Arzt und Schriftsteller Alfred Kneucker (1904–1960), überlebte im Exil. Kneuckers Schwester Bertha Schneider geb. Neumann (geb. 11. 1. 1876) kam am 30. 6. 1940 in der Heilanstalt "Am Steinhof" um.
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