Die rechtsterroristischen, anti-muslimischen Anschläge von Christchurch, Neuseeland, haben Vertreter der sogenannten Identitären Bewegung weltweit in Erklärungsnot gebracht. Nicht nur war das Manifest des Attentäters mit einem Slogan betitelt, den Identitäre maßgeblich popularisiert hatten ("The Great Replacement"), auch in der Analyse der Weltlage weist das Bekennerschreiben umfangreiche Überschneidungen mit identitären Narrativen auf (siehe: Christchurch: das Weltbild des mutmaßlichen Attentäters).
In der Nacht auf den 26. März gab der Leiter der Identitären Bewegung Österreich (IBÖ), Martin Sellner, via online verbreiteter Videobotschaft bekannt, dass eine polizeiliche Hausdurchsuchung an seiner Wohnadresse stattgefunden hat. Anlass sei eine Spende gewesen, welche Sellner Anfang 2018 unter dem Namen des Attentäters erhalten habe. In seinem Manifest hatte dieser, ohne nähere Angaben zu machen, bereits von zahlreichen Spenden berichtet, die er an "nationalistische Gruppen" geleistet habe. Sellner zufolge werde gegen ihn wegen des Verdachts der Gründung oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ermittelt. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Unabhängig vom Ausgang der Ermittlungen lässt sich einstweilen festhalten, dass die IBÖ auch nach Christchurch ihren Erzählungen treu zu bleiben gedenkt. Der Mord an 50 Menschen, gestützt unter anderem auf identitäre Ideen, lieferte demnach keinen hinreichenden Anlass zur Hinterfragung der eigenen Agenda und Rhetorik. Vielmehr zeigt man sich bestrebt, den vom Attentäter zugespielten Ball aufzunehmen und das aktuelle Medieninteresse für die eigene Propaganda zu nutzen. So setzt man auf gezielte Provokation und trat letzte Woche, wenige Tage nach dem Attentat, der Donnerstagsdemonstration in Wien just mit dem Slogan des Attentäters entgegen: "Stoppt den großen Austausch" stand auf dem Banner zu lesen, das Identitäre den DemonstrantInnen entgegenhielten. In einer begleitend zu dieser Aktion verfassten Aussendung machte man klar, gegen wen die identitäre Abscheu nach Christchurch sich eigentlich richtet: gegen die "laute[] extremistische[] Minderheit der Multikultis".
In derselben Aussendung pocht man auf die Faktizität der Erzählungen vom "großen Austausch" und der "Islamisierung", welche "unsere Demokratie" und "unsere Identität" bedrohten, und kampagnisiert unbeirrt für "Remigration" und "De-Islamisierung". Die identitäre Distanzierung von Gewalt und Terror erfolgt in einem Atemzug mit einer Rationalisierung seiner Motive, die teils an Legitimierung grenzt. So wird der Massenmord von Christchurch in der Aussendung unter jene "Verwerfungen" subsumiert, welche der Multikulturalismus hervorgebracht habe. In einem am 24. März veröffentlichen Video warb Sellner um Verständnis für ihm zufolge "hunderttausende junge Männer, verzweifelte, wütende junge Männer", die "sehen, dass sie ihre Heimaten verlieren", aber in Politik und Medien kein Gehör fänden. Wenn "dann wirklich einer durchdreht", sollte dies Sellner zufolge Anlass geben, mit zivilisierten Ethno-Nationalisten das Gespräch zu suchen. Stattdessen werde "keine politisch legitime Debatte" über "den Bevölkerungsaustausch" zugelassen. Sellner behauptet dies wohlgemerkt in einem Land, in dem eben dieser Begriff seit vielen Jahren zum Alltagsvokabular einer 25%-Partei zählt. Die Verantwortung für Attentate wie jenes von Christchurch weist die oben erwähnte IBÖ-Aussendung dementsprechend nicht etwa dem Attentäter oder Gruppierungen zu, von denen er sich Inspiration holte, sondern PolitikerInnen, die für Multikulturalismus eintreten. Als weitere Schuldige identifiziert Sellner in seinem Video vom 24. März Medien, die kritisch über die internationale Vernetzung im Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus berichten.
Zusammenfassend besteht der identitäre Umgang mit Christchurch und den Folgen bis dato darin, sich einerseits vom Rechtsterrorismus als Form zu distanzieren und andererseits zentrale Narrative zu reproduzieren, auf welche dieser sich stützt. Die entscheidende Überschneidung liegt dabei nicht in der Behauptung, dass westliche Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten ethnisch diverser geworden sind – sondern in der Bewertung dieser Entwicklung und der Unterstellung ihrer aktiven Förderung durch vermeintliche Volksverräter. In der identitären Weltsicht kommt die Pluralisierung westlicher Gesellschaften dem Untergang des Abendlandes gleich. Ein friedliches, auf Inklusion basierendes Zusammenleben von Ethnien wird weder gewünscht noch überhaupt für möglich erachtet. Darin, sowie in der Diffamierung abweichender Meinungen als Verrat am eigenen Volk, sind Sellner und der Attentäter von Christchurch sich einig, so sehr sie auch in der Wahl ihrer Mittel zur Erreichung des Ziels ethnischer Homogenisierung im Weltmaßstab differieren mögen.