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Peter Stadlbauer: Eichmanns Chef - Erich Ehrlinger

Exzellente SS-Karriere und unterbliebene strafrechtliche Sühne. Eine Fallstudie

Abstract

 

Diese Arbeit wurde mit dem Herbert Steiner-Anerkennungspreis 2008 ausgezeichnet.

 

 

Am 31. Juli 2004 starb der frühere Stabschef von Adolf Eichmann im SD-Hauptamt, der 1910 im Württembergischen Giengen an der Brenz geborene, ehemalige SS-Oberführer Erich Ehrlinger, in Karlsruhe. Unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit verschied damit einer der führenden Exekutoren der "Endlösung der Judenfrage" in Kiew und Minsk gerade in jener Stadt, die als Zentrum der deutschen Justiz gilt und in der ihm und sieben weiteren Angeklagten Anfang der 1960er Jahre der Prozess wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen im Baltikum und in der Ukraine gemacht worden war.

 

Ehrlingers Biographie erscheint in einem zweifachen Sinn paradigmatisch: Zum einen spiegelt sie die Weltanschauung und das Selbstverständnis einer bestimmten - vornehmlich jungen, akademisch gebildeten - NS-Führungselite wider, einer "politischen Generation", die das 20. Jahrhundert so nachhaltig geprägt hat, wie kaum eine andere. Zum anderen können Ehrlingers berufliche, insbesondere aber seine politische Karriere als SA- und SS-Führer ebenso wie sein weiteres Leben nach 1945 und seine strafrechtliche Verfolgung stellvertretend für andere hohe SS-Führer und den Umgang der BRD-Nachkriegsjustiz mit diesen NS-Tätern stehen. Die Arbeit gliedert sich daher in zwei große Teile: Der erste beschäftigt sich mit dem Werden eines Täters, der von der historischen Forschung zuletzt als "agiler, vielseitig einsetzbarer" Vertreter "kämpfender Verwaltung" nach den Vorstellungen Heydrichs (Michael Wildt) und als "sicherheitspolizeiliche Allzweckwaffe" (Lutz Hachmeister) beschrieben wurde. Der zweite Teil behandelt die strafrechtliche Verfolgung Ehrlingers durch die bundesdeutsche Strafjustiz nach 1945.

 

Aus der Kriegsjugendgeneration stammend bewährte sich Ehrlinger bereits während seines Studiums der Staats- und Rechtswissenschaften in Tübingen und Berlin als SA-Führer in Straßenschlachten und organisierte die NS-Hochschulpolitik aktiv mit. Danach war er als Leiter der Hauptabteilung II 11 im SD-Hauptamt, in der auch Eichmann - von Ehrlinger gefördert - den Grundstein für seine weitere Karriere legen konnte, maßgeblich an der Ausgestaltung der repressiven Politik gegen die weltanschaulichen Gegner, insbesondere in Kirchen- und "Judenangelegenheiten" beteiligt. Das Talent Ehrlingers bestand darin, das theoretische Wissen über das Wesen der weltanschaulichen Gegner und ihre potenzielle Gefahr für das NS-Regime, das er gemeinsam mit den ihm unterstellten Referenten zu einem gewissen Grad selbst definierte, organisatorisch mit der exekutiven Gegnerbekämpfung, die eigentlich der Gestapo vorbehalten war, zu verbinden. In seiner Person bzw. seinem Handeln und im Verband der Einsatzgruppen wird der organisatorische Zusammenschluss von Gegnerbestimmung und -auswertung durch den SD und exekutiver Gegnerbekämpfung durch die Gestapo erkennbar, die im September 1939 mit der Gründung des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) Wirklichkeit wurde.

 

Anhand Ehrlingers Vorgehen als Einsatzkommandoführer 1b und später Kommandeur bzw. Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Kiew und Minsk lässt sich der beispiellose Radikalisierungsprozess der NS-Vernichtungspolitik gegenüber Partisanen, sowjetischen Kommissaren, Juden und anderen "Untermenschen" nicht nur exemplarisch verfolgen, sondern es zeigt ihn als einen maßgeblichen "Schrittmacher" dieser Entwicklung. Insbesondere aufgrund seines "Einsatzes im Osten", dessen Schlusspunkt die Liquidierung des Minsker Ghettos und die "Enterdung" der Massengräber unter seiner Führung markierte, und seines "hervorragenden politischen Instinkts" (Ernst Kaltenbrunner) avancierte Ehrlinger 1944 schließlich zum jüngsten Amtschef im RSHA.

 

Auch die "Nachkarriere" Ehrlingers nach 1945 kann stellvertretend für den Umgang der BRD-Justiz und deren Repräsentanten in den 1950er und 1960er Jahren stehen. Nachdem Ehrlinger in Deutschland untergetaucht war, konnte er - wegen einer Unterhaltsklage - ausfindig gemacht werden. Es dauerte allerdings wiederum einige Jahre, bis er in der Folge des Ulmer Einsatzkommando-Prozesses und im Zuge der Gründung der Zentralen Stelle in Ludwigsburg 1958 verhaftet wurde. Nach einem mehrere Jahre dauernden Strafverfahren - das zahlreiche weitere, wie jenes gegen den ehemaligen Gestapo-Chef von Minsk und späteren Chef des LKA Rheinland-Pfalz, Georg Heuser, in Gang setzte - wurde Ehrlinger in Karlsruhe schließlich unter Anrechnung der U-Haft zu 12 Jahren Haft wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord verurteilt. Rechtskräftig sollte dieses Urteil jedoch nie werden, vielmehr wurde Ehrlinger 1969 für dauerhaft verhandlungs- und haftunfähig erklärt, nachdem er bereits 1965 aus der Haft entlassen worden war.

 

Die Verhandlung vor dem Landgericht Karlsruhe als auch das Urteil des BGH sowie die weiteren (unterbliebenen) rechtlichen Schritte gegen Ehrlinger zeigen typische Kennzeichen des Umgangs des Justizapparats der BRD mit NS-Gewaltverbrechern und zeugen von einer ambivalenten Haltung der westdeutschen Justiz bei der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Tätern, wie ihn Ehrlinger darstellt. Dabei spielte die antikommunistische Grundstimmung des Kalten Krieges, die Anwendung der "Gehilfenrechtsprechung" durch die Annahme einer unentrinnbaren und moralisch entlastenden Befehlshierarchie, eine damit verbundene milde Strafzumessung und ein schiefes Geschichtsbild des Nationalsozialismus eine bestimmende Rolle. Die von der Geschichtsforschung nach 1945 (über-)betonte Hitler-Zentrierung und intentionalistisch-hierarchische Sicht des NS-Regimes vernachlässigte die Eigenverantwortlichkeit und Befehlsgewalt der SS-Führer der Einsatzgruppen und leistete der Exkulpierung vieler NS-Gewaltverbrecher unterhalb der obersten Führungsebene des "Dritten Reichs" Vorschub. Die Annahme von der Existenz eines vorab verkündeten "Endlösungsbefehls" und dessen kanonisierende Festschreibung wirkte sich dabei in zweierlei Hinsicht katastrophal aus, wie Klaus-Michael Mallmann betont: Zum einen reduzierte sie regelmäßig das Strafmaß der Angeklagten, indem sie ihnen Deckung von "oben" verschaffte und damit ihre Kategorisierung als "Tatgehilfen" erlaubte. Zum anderen verstellte sie den historiographischen Blick auf die Einsatzgruppen und deren Akteure, weil eine präzise Untersuchung des Geschehens an der Basis keine neuen Erkenntnisse versprach, wenn man sie von vornherein als reine Befehlserfüllung ohne eigenen Antriebe, Energien und Motive ansah. Diese nivellierende Wirkung sollte sich auch im Verfahren gegen Ehrlinger auswirken und folglich den "Ermessensspielraum" Ehrlingers als Einsatzkommandoführer weitgehend außer Acht lassen. Ungekehrt produzierten die dabei entstehenden Verfahrensakten Quellen, die wiederum der intentionalistischen, "Führer"-zentrierten Sicht der Geschichtsforschung Vorschub leisteten.

 

Bestehende Netzwerke ehemaliger Nazis begünstigten zudem die frühe Haftentlassung Ehrlingers. So hatten die beiden Hauptprotagonisten der "medizinischen Amnestie" eine prominente NS-Vergangenheit. Der verantwortliche Richter war ein ehemaliger HJ-Scharführer und Wehrmachtsoffizier. Ein medizinisches Gutachten - ebenfalls von einem ehemaligen "Pg." - erklärte Ehrlinger aufgrund einer Neurose für dauerhaft haft- und verhandlungsunfähig, wenngleich er noch 35 Jahre völlig unbehelligt in Karlsruhe weiterleben konnte. Hinzu kam die Hilfe einflussreicher Faktoren der deutschen Gesellschaft wie die politische Unterstützung seitens der FDP und der evangelischen Landeskirche, die aus einem traditionalen Religionsverständnis zum Teil Nachsicht gegenüber NS-Verbrechern bekundete. In der Verschränkung dieser Faktoren werden die legislativ-politischen Fehlleistungen und juristischen wie medizinischen Spitzfindigkeiten erkennbar, die zusammen dazu führten, dass Ehrlinger - wie viele andere - schlussendlich nie rechtskräftig verurteilt wurde.

 

 

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