Ruth Maier (1920–1942): Wien – Oslo – Auschwitz
Während des Novemberpogroms 1938 wurde die 18-jährige Wienerin Ruth Maier Zeugin der Gewaltexzesse des Nazi-Mobs. Das Mädchen, das zuvor keinerlei Beziehung zum Judentum hatte, begann in ihrem Tagebuch eine Auseinandersetzung über ihre Identität. Verjagt von der Schule, delogiert aus der Gemeindewohnung, ohne jede Zukunft im nationalsozialistisch beherrschten Österreich, fand sie im Jänner 1939 Zuflucht in Norwegen. Nach der Besetzung Norwegens durch die Deutsche Wehrmacht 1940 vertraute sie ihrem Tagebuch ihre Erlebnisse mit der Kollaboration an, berichtete aber auch über die Widerständigkeit vieler NorwegerInnen.
Ruth Maier, 1940
Foto: HL-senteret
Im November 1942 lieferte die norwegische Polizei Ruth Maier an das nationalsozialistische Deutschland aus. Am 1. Dezember 1942 wurde sie, gemeinsam mit Hunderten norwegischen Jüdinnen und Juden, in Auschwitz-Birkenau ermordet.
Ihre Freundin, die junge norwegische Dichterin Gunvor Hofmo, bewahrte Ruth Maiers Tagebücher auf. Ihr Nachlassverwalter, der norwegische Lyriker, Übersetzer und Musiker Jan Erik Vold, publizierte 2007 die Tagebücher zusammen mit den Briefen, die Ruth Maier aus Norwegen an ihre Schwester in England schrieb. Das Buch wurde bisher in 13 Sprachen übersetzt, zum Jahreswechsel erscheint die überarbeitete "Wiener Ausgabe".
Tagebücher, Briefe, Zeichnungen und Aquarelle Ruth Maiers werden im norwegischen Zentrum für Holocaust- und Minderheitenforschung in Oslo verwahrt und sind Teil des norwegischen "Dokumentenerbes" und damit im UNESCO-Register des Welt-Dokumentenerbes verzeichnet. Im politischen Diskurs wurde Ruth Maier zum Symbol des Umgangs Norwegens mit den jüdischen Flüchtlingen zur Zeit der deutschen Besetzung.
2017 gestaltete das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes eine Ausstellung, die mittlerweile in Wien, Oslo, New York und Washington gezeigt wurde. 2021 wird eine tschechische Fassung der Ausstellung in Brünn gezeigt werden, die auch die mährisch-jüdische Familiengeschichte einbeziehen wird.
In Wien wird 2021 eine Tafel vor dem Rudolf-Sigmund-Hof im 18. Bezirk an Ruth Maier und andere aus diesem Gemeindebau vertriebene Jüdinnen und Juden erinnern, die dem Holocaust zum Opfer fielen. Im 2. Bezirk wird der Park gegenüber dem Haus Obere Donaustraße 43 künftig ihren Namen tragen. Das Haus war die letzte Wohnadresse von Ruth Maier und weiteren 75 Jüdinnen und Juden vor ihrer Deportation und Ermordung. Ab 1939 entstanden durch massenhafte Zwangsumsiedlungen der jüdischen Bevölkerung in meist schlechtere und kleinere Quartiere innerhalb der Stadt sogenannte "Judenhäuser" mit "Sammelwohnungen". Derartige Häuser waren in den Bezirken Innere Stadt, Leopoldstadt und Alsergrund besonders häufig.
Das DÖW bietet auf der mobilen Website www.memento.wien Informationen und Dokumente zu den letzten Wohnadressen der Shoah-Opfer sowie eine Reihe von Archivdokumenten und Fotos zu Personen und Gebäuden in der Stadt.