logo
logo

... niemals vor undemokratischen Strömungen die Augen schließen

Ansprache der wissenschaftlichen Leiterin des DÖW Brigitte Bailer anlässlich der Einweihung der Nationalen Gedenkstätte für die Opfer der NS-Justiz, 11. März 2013

 

Anlässlich des 75. Jahrestags des "Anschlusses" im März 1938 wurde am 11. März 2013 von Bundeskanzler Werner Faymann und Innenministerin Johanna Mikl-Leitner auf dem Wiener Zentralfriedhof (Gruppe 40) eine Nationale Gedenkstätte für die Opfer der nationalsozialistischen Justiz eingeweiht. Anwesend waren nahezu alle Regierungsmitglieder, Nationalratspräsidentin Barbara Prammer sowie Vertreter der Religionsgemeinschaften. Im Rahmen des Festakts sprachen neben der wissenschaftlichen Leiterin des DÖW Brigitte Bailer auch die Widerstandskämpferin und KZ-Überlebende Käthe Sasso sowie Gerhard Kastelic als Vertreter der ÖVP-Kameradschaft der politisch Verfolgten und Bekenner für Österreich.

 

 

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
sehr geehrte Frau Bundesministerin und Mitglieder der Bundesregierung,
sehr geehrte Vertreter der Religionsgemeinschaften,
sehr geehrte Damen und Herren!

 

Die nationalsozialistische Herrschaft begann im März 1938 mit dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht, mancherorts schon Stunden zuvor mit der Übernahme der Macht durch österreichische Nationalsozialisten. Gleichzeitig setzte bis dahin unvorstellbar gewesener Terror gegen politisch Andersdenkende sowie schrankenlose Demütigung, Beraubung und Misshandlung von Jüdinnen und Juden ein.

 

Am 15. März wurde mit der Errichtung der Gestapoleitstelle Wien begonnen, die zu einem zentralen Instrument der Verfolgung des politischen Widerstandes, oppositionellen und von den nationalsozialistischen Normen abweichenden Verhaltens wurde. Rund 100.000 Menschen gerieten in den Folgejahren auf ehemals österreichischem Gebiet in die Fänge der Gestapo, sehr viele davon aufgrund von Verrat durch Bekannte, Arbeitskollegen oder gedungene Spitzel. Der Volksgerichtshof, die Oberlandesgerichte Wien und Graz und die Sondergerichte sowie Militärjustiz verurteilten Tausende ÖsterreicherInnen wegen politischen Widerstandes, der Verbreitung regimefeindlicher Äußerungen, Abhörens ausländischer Sender sowie anderer geringfügiger Vergehen. Im Laufe des Krieges wurden immer mehr Verstöße gegen nationalsozialistische Gesetze mit der Todesstrafe bedroht. Von den vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes in mehrjährigen Forschungen namentlich erfassten Todesopfern politischer Verfolgung wurden 2146 hingerichtet oder starben in der Haft. Mehr als die Hälfte von ihnen verlor ihr Leben unter dem Fallbeil im Hinrichtungsraum des Landesgerichts Wien, darunter auch junge Menschen, nur wenig älter als die heute hier anwesenden Schülerinnen und Schüler. Die Abschiedsbriefe der zum Tode Verurteilten geben einen Eindruck von dem Leid, das die nationalsozialistische Unrechtsjustiz verursachte, und von der Trauer jener Menschen, die wussten, dass sie in wenigen Stunden unter dem Fallbeil sterben würden. Diese Menschen bezahlten ihr Einstehen für ihre politische oder religiöse Überzeugung, ihr Eintreten für Mitmenschlichkeit, Freiheit und Demokratie mit dem Leben. Manche hatten sich einfach nur dem Regime nicht anpassen wollen, hatten ihre Kritik laut und vor den falschen Leuten geäußert. An den dafür festgesetzten Tagen fanden die Hinrichtungen ab 18 Uhr jeweils im Abstand weniger Minuten statt. Viele der Toten wurden anschließend für medizinische Zwecke in das Anatomische Institut der Universität Wien überstellt, andere sofort in den Schachtgräbern der Gruppe 40 formlos verscharrt so wie auch später die Überreste aus dem Anatomischen Institut. Die Angehörigen erhielten keine Möglichkeit, sich von den Toten zu verabschieden. Vielmehr wurden ihnen die Kosten des Henkers in Rechnung gestellt.

 

Der Militärschießplatz Kagran war Todesort für mehr als 100 Soldaten, Polizeiangehörige und Feuerwehrmänner, die von Militärjustiz oder Polizei- und SS-Gerichtsbarkeit zum Tode verurteilt worden waren. Der Jüngste war 18 Jahre alt. Sie hatten versucht, sich dem Militärdienst zu entziehen, manche hatten sich zu diesem Zweck selbst Verletzungen zugefügt, um nicht fronttauglich zu sein. Andere wiederum hatten öffentlich Kritik an Wehrmacht und Kriegsführung geübt. Sie wurden jeweils in den frühen Morgenstunden, vorbei am schon bereitstehenden Sarg, zum Hinrichtungspfahl geführt und erschossen. Ihre Leichen kamen entweder gleichfalls ins Anatomische Institut, manche wurden sofort in der Gruppe 40 oder an anderen Orten des Zentralfriedhofs bzw. anderen Friedhöfen bestattet.

 

Ihre letzte Ruhestätte fanden hier auch jene meist politischen Häftlinge aus dem Zuchthaus Stein, die nach ihrer Entlassung im April 1945 in Hadersdorf am Kamp von einer Einheit der Waffen-SS erschossen worden waren.

 

Zur Erinnerung an die in Konzentrationslagern ermordeten Österreicher und Österreicherinnen wurden Aschekapseln aus dem KZ Auschwitz, Buchenwald und anderen Lagern ebenfalls in der Gruppe 40 beerdigt. So wie auch sterbliche Überreste von Opfern der NS-Medizinverbrechen aus dem Otto Wagner-Spital hier bestattet wurden.

 

Insgesamt fielen mindestens 110.000 Österreicher und Österreicherinnen der nationalsozialistischen Verfolgung zum Opfer, darunter 66.000 Jüdinnen und Juden, zwischen 9000 und 10.000 Roma und Sinti, 25.000 Menschen starben, weil ihnen als Behinderte das Lebensrecht abgesprochen wurde, und mindestens 9500 Menschen wurden im Zuge der politischen Verfolgung ermordet.

 

Wir schulden es den hier bestatteten Frauen und Männern aus Widerstand und politischer Verfolgung, niemals vor undemokratischen Strömungen oder Verletzungen der Menschenrechte die Augen zu schließen. Zu rasch können Worte zu mörderischen Taten werden. Es gilt, rechtzeitig dagegen aufzustehen.

 

 

<< Neues

 

Unterstützt von: