Die Historikerin, Exilforscherin und Lyrikerin Mag. Siglinde Bolbecher, als freie Mitarbeiterin und Freundin dem DÖW seit Jahrzehnten eng verbunden, starb am 6. Juli 2012 nach schwerer Krankheit im Alter von 60 Jahren.
Am 18. Juni 1952 in Wien geboren, widmete sich Siglinde Bolbecher nach dem Studium der Theaterwissenschaft, Anglistik, Geschichte und Philosophie an der Universität Wien insbesondere der Erforschung und Verbreitung der österreichischen Literatur des Exils und des Widerstands und leistete auf diesem Gebiet Pionierarbeit. 1984 war sie Mitbegründerin der Theodor Kramer Gesellschaft, der sie bis zuletzt als stellvertretende Vorsitzende angehörte. Ebenfalls seit 1984 fungierte sie als Mitherausgeberin der Zeitschrift Mit der Ziehharmonika (seit 2000 Zwischenwelt) und der Zwischenwelt-Jahrbücher (seit 1990). Als Herausgeberin und Lektorin prägte sie auch die Buchreihe antifaschistische Literatur und Exilliteratur - Studien und Texte (seit 1987) - daraus entstand 1995 der Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft.
Überreichung des Goldenen Ehrenzeiches für Verdienste um die Republik Österreich an Siglinde Bolbecher, 21. März 2012: Nationalratspräsidentin Barbara Prammer (links) begrüßt Siglinde Bolbecher
Foto: Parlamentsdirektion/Bildagentur Zolles KG/Mike Ranz
Bolbecher war u. a. Herausgeberin der gesammelten Werke von Stella Rotenberg und Mitherausgeberin und Mitautorin des Standardwerks Lexikon der österreichischen Exilliteratur (2000). Sie veröffentlichte zahlreiche Studien, organisierte Symposien, Tagungen und Lesungen. Besonderes Anliegen war ihr die Erforschung der Rolle von Frauen im Exil sowie des Frauen- und Männerbilds im Nationalsozialismus. 1995 organisierte sie das erste Symposium in Österreich zum Thema Frauen im Exil. Seit 2002 leitete sie die von ihr ins Leben gerufenen Frauen-AG im Rahmen der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung. 2007 erschien die von ihr herausgegebene Publikation Frauen im Exil. An der Bundesakademie für Sozialarbeit in Wien, an der sie unterrichtete, hielt sie u. a. Lehrveranstaltungen zur feministischen Sozialarbeit ab. Ihre Beziehungen zum DÖW datieren lange zurück. 1985 etwa wurde hier die von ihr und ihrem Mann Konstantin Kaiser initiierte Ausstellung Kabarett und Satire im Widerstand 1933-1945 gezeigt; sie war in das Interview-Projekt Erzählte Geschichte ebenso eingebunden wie in viele andere Forschungen im Rahmen des DÖW zur Dimension und Leistung des österreichischen Exils. Bolbechers Geschichtsverständnis war dabei immer auch auf die Gegenwart fokussiert, so schrieb sie u. a., dass "diejenigen, die Gesetze und Verordnungen gegen Flüchtlinge dekretieren, die Geschichte des Exils kennen sollten".
Im März 2012 wurde Siglinde Bolbecher mit dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet. In seiner Laudation führte Peter Roessler an:
"Diese großartige Lebensarbeit hat ein Zentrum, die Erforschung der österreichischen Exilliteratur, und alle hier wissen um die Bedeutung des Themas sowie um die Bedeutung von Siglindes Arbeit. Sie hat nicht nur - wie es in der Sprache der Absicherung heißt - einen Beitrag zu diesem Thema geliefert, sondern sie ist mit diesem Thema verbunden, sie hat es - ohne karrieristisches Berufskalkül - mitentdeckt, gestaltet und vermittelt. [...]
Damit bin ich nun bei jenen großen Leistungen angelangt, für die Siglinde Bolbecher heute die Auszeichnung erhält. Sie kommen uns in diesem Kreis oft schon selbstverständlich vor, so sehr brauchen wir sie, aber etwas verfremdet betrachtet, muss es uns wohl unglaublich erscheinen, wie das alles unter schwierigen Bedingungen, das heißt vor allem gegen allerlei politische und ökonomische Widerstände zustandegekommen ist. Es ist nicht dem fragwürdigen Genre der Laudatio geschuldet, wenn ich diese Arbeiten als epochal bezeichnen möchte und auch festhalten muss, dass sie noch viel zu wenig Anerkennung gefunden haben, denn es liegen hier Ergebnisse vor, ohne deren Berücksichtigung künftig über österreichische Literatur und Geschichte gar nicht mehr vernünftig geschrieben und gesprochen werden kann."
Aus: Peter Roessler, Geschichte, Gespräch, Forschung, Erzählung. Über Siglinde Bolbecher und ihre vier großen Verdienste, in: Zwischenwelt. Literatur / Widerstand / Exil, 1-2/Mai 2012, S. 14 f.)