Am 25.06.2024 wurde vor der VHS Hietzing die Stele in Gedenken an die Opfer der Shoa enthüllt. Sie erinnert aus dem Umfeld der Wiener Volkshochschulen an die 165 von den Nationalsozialisten Ermordeten, an 21 Personen, die aus Verzweiflung Suizid begingen sowie an 52 Überlebende der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) konnte das Projekt der namentlichen Erfassung der Opfer der VHS in den vergangenen Jahren u.a. mit opferbezogenen Daten unterstützen.
Foto: Robert Streibel, Sylvia Kuba, Christian H. Stifter, Linda Erker, Herbert Schweiger (v.l.n.r.)
© Nick Mangafas
Foto: Linda Erker und Robert Streibel vor der Gedenkstele
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Nationalsozialismus und Volkshochschulen
Rede zur Enthüllung der Stele für die Opfer der Shoa im Umfeld der Wiener Volkshochschulen am 25.06.2024 von Linda Erker, DÖW.
Ich danke der VHS Hietzing und dem Österreichischen Volkshochschularchiv, namentlich Robert Streibel und Christian H. Stifter für das Projekt der namentlichen Erfassung der Opfer der Shoa im Umfeld der Wiener Volkshochschulen und gratuliere zu dieser wichtigen Gedenkinitiative.
Das DÖW durfte dem Projekt in den vergangenen Jahren unterstützend zur Seite stehen, wenn es um den Abgleich von Namen und vertiefenden Informationen zu den hier gelisteten und erinnerten Menschen ging. Das taten wir vor allem durch unseren verstorbenen Mitarbeiter Gerhard Ungar (1954-2021).
Das DÖW gibt es seit 1963 und wir sehen unsere Arbeit, ob im Archiv, in der Bibliothek, in der Forschungs- oder Vermittlungsarbeit sowie in der Sammlung Rechtsextremismus als eine, auf wissenschaftlicher Arbeit basierende Aufgabe und gleichzeitig als eine Public History-Verpflichtung.
Wir möchten im Kontext der Erforschung des NS-Regimes eine Institution sein, die „erinnert“ (u.a. in Form der Mammutaufgabe der Sammlung und Aufbereitung von Opferdaten), „erforscht“ (in zahlreichen Forschungsprojekten) und „erkennt“ (in der Bildungsarbeit, in Ausstellungen und der Sammlung zu Rechtsextremismus nach 1945). Wir sind aber auch eine Institution, die Geschichte(n) im öffentlichen Raum sichtbar machen möchte. Dazu gehört es, Projekte, wie die namentliche Erfassung der Shoa-Opfer der VHS zu unterstützen, um gerne auch darüber zu diskutieren.
Foto: Linda Erker
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Ich habe mich lange und intensiv mit der Geschichte der Universität Wien im Austrofaschismus beschäftigt und kam dabei nicht darum herum, mich mit der Geschichte der Volkshochschulen und insbesondere der Menschen, die an den VHS-Standorten wirkten, zu beschäftigen.
Die Universität Wien war in der gesamten Zwischenkriegszeit ein Hort der Reaktion, der Antisemiten und Anti-Linken. Genau gegenläufig war die Entwicklung der außeruniversitären Erwachsenenbildung in Wien. Sie etablierte sich nach 1918 als eine Art Gegengewicht zum elitären Hochschulstudium. Die allgemeine, berufliche und wissenschaftliche Weiterbildung sollte in Volkshochschulen, den „Hochschulen des Proletariats“, eine Alternative zu den reaktionären Universitäten bieten.
Der Bereich der Volksbildung bot aber auch für Wissenschafter*innen eine Möglichkeit, in ihrer Disziplin tätig zu sein, nachdem sie wegen ihrer jüdischen Herkunft, ihres Geschlechtes und/oder ihrer politischen Positionierung keine Chance auf eine Karriere an der Universität hatten. Zu den bekanntesten Beispielen zählten der Rechtswissenschafter Stephan Brassloff, die Biologin und Zoologin Leonore Brecher oder auch der Physiker, Philosoph und Soziologe Edgar Zilsel.
Alle drei wurden von Antisemiten an ihren weiteren Hochschulkarrieren gehindert. Der „Anschluss“ 1938 war für sie folgenschwer. Brassloff starb 1943 in Theresienstadt/Terezín. Brecher starb 1942 in Maly Trostinec. Ihre beiden Namen finden wir in roter Schrift auf der Gedenkstele. Sie wurden in der Shoa ermordet bzw. starben an den Bedingungen der Haft. An Leonore Brecher erinnert ab heute auch ein Baum vor der VHS Hietzing.
Nachdem Zilsel 1923 mit seinen Habilitationsversuchen an der Universität Wien scheiterte, wurde er hauptberuflich Lehrer am Pädagogischen Institut der Stadt Wien und an den Volkshochschulen. Noch 1932/33 unterrichtete er den VHS-Kurs „Die Materie in Philosophie und Naturwissenschaft“ im Volksheim Ottakring. An Zilsel sieht man, dass die Wiener Volkshochschulen sowie die Arbeiter*innen gewissermaßen vom exkluierenden Charakter der Universität Wien profitierten und deshalb auf exzellent qualifizierte Lehrende zählen konnten. Aber auch diese Chance währte für Zilsel nicht lange. Er wurde von den Nationalsozialisten als Jude verfolgt. Ihm gelang die Flucht, aber 1944 setzte er seinem Leben ein Ende. Seinen Namen finden wir auf der Stele in blauer Schrift.
Diese Stele führt insgesamt 52 Menschen an, die sich das Leben nahmen. Ich danke den Projektverantwortlichen für die Sichtbarmachung dieser Menschen und ihrer vermutlich sehr verzweifelten Entscheidungen.
Wie mein Kollege, Wolfgang Schellenbacher, erst kürzlich herausarbeitete, erreichte die Zahl der Suizide ihren Höhepunkt nach dem „Anschluss“ im März 1938, aber auch während des Novemberpogroms und in Zeiten, in denen die Menschen den Verlust ihrer Wohnung befürchteten. Während die Forschung bereits einen Zusammenhang zwischen Suiziden und den Massentransporten aus Wien zwischen Herbst 1941 und Herbst 1942 nahegelegt hatte, erlauben seine Daten eine vertiefte Analyse des Zusammenhangs zwischen Transporten und Suiziden und können dies auf der Ebene der einzelnen Transporte aus Wien nachweisen. (Schellenbacher, From Exclusion, Deprivation, and Persecution to Suicide, in: S: I. M. O. N. 9/2022).
Dass mit dieser Stele nun das Thema Suizid angesprochen wird, ist nicht nur ob des Tabus im Allgemeinen, sondern auch speziell vor dem Hintergrund der langanhaltenden Forschungslücke ein wichtiger Schritt in die Öffentlichkeit.
Ich denke hier auch an Menschen, wie den Geografen Norbert Lichtenecker, der noch 1937/38 den VHS-Kurs „Die Landschaft um Wien“ anbot und lange an der Urania unterrichtete. Ich habe vor 15 Jahren erstmals von ihm gehört. Eine Zeitzeugin hatte mir hinter vorgehaltener Hand in einem Interview erzählt, dass Lichtenecker Suizid beging, aber man nie darüber sprach – also zu ihm schwieg und ihn somit vergaß. Erst später fand ich eine Bestätigung in der Fachliteratur, hier hieß es: „Dramatisch war sicherlich der Selbstmord des talentierten Dozenten Norbert Lichtenecker, der mit einer Jüdin verheiratet war und der wohl aus Verzweiflung über eine ungewisse Zukunft diesen Schritt setzte.“ (Fassmann, Geographie an der Universität Wien 1938/1945/1955, in: Grandner/Heiss/Rathkolb, 2005, 276-277.) Sein Name ist – so vermute ich – an keiner anderen öffentlichen Stelle angeführt und somit Teil unserer gemeinsamen öffentlichen Erinnerung. Sie haben das nun geändert.
Sie erinnern hier auch an den bekannten Neurologen und Psychiater Viktor Frankl. Er überlebte zahlreiche Konzentrationslager. Nach jahrelanger Arbeit an der VHS in den Jahren vor dem „Anschluss“ 1938, konnte er nach dem Krieg wieder an diese Tätigkeit anschließen. Frankl unterrichtete ab 1950/51 wieder. Sein erster Kurs trug den Titel „Seelische Hilfe“, vielleicht war es ein wenig „ein nach Hause kommen“, aber das ist nur eine Vermutung. Frankls Namen finden wir gemeinsam mit 51 anderen in gelber Schrift auf dieser Stele und sein Name verweist darauf, dass wir auch an jene erinnern müssen, die das NS-Regime überlebten und diese Erfahrung ein Leben lang mit sich trugen.
Ich möchte Ihnen aber nicht nur von Menschen erzählen, von denen wir biografisch etwas wissen bzw. sie kennen, weil sie Eingang in unsere Wissenschaftsgeschichte fanden. Ich möchte Ihnen auch von Malvine Antscherl erzählen, einer von vielen.
Malvine Antscherl wurde 1890 in Wien geboren und unterrichtete seit spätestens 1918/19 vor allem im Volksheim Ottakring. Ich habe mindestens 45 Einträge in der Kursdatenbank des Österreichischen Volkshochschularchivs zu ihr gefunden. „Algebra und Geometrie“ dürfte ihr erster Kurs gewesen sein, es folgten solche zu „Einführung in die Raumlehre“ oder auch mit den Titeln „Zirkel und Lineal“ und „Zylinder- und Kegelschnitte“.
Zum Zeitpunkt ihrer Deportation im August 1942 lebte sie gemeinsam mit ihrer Mutter und Schwester in der Fugbachgasse im zweiten Bezirk. Sie dürfte ledig gewesen sein. Ihre Schwester stellte einen Antrag auf Ausreise und vermerkte hier: „Meine Schwester möchter später auswandern.“ Für uns ist das ein Hinweis darauf, dass Malvine Antscherl vermutlich bei ihrer Mutter, die an derselben Wohnadresse gemeldet war, bleiben wollte. Eine Ausreise gelang ihr nie.
Malvine Antscherl wird in der Deportationsliste mit dem Titel „8. Transport von alten und siechen Juden nach Theresienstadt am 20.8.1942“ an 8ter bzw. 9ter Stelle geführt, ihr Beruf wurde als „Lehrerin“ beschrieben. Nach knapp zwei Jahren in Theresienstadt/Terezín wurde sie im Herbst 1944 nach Auschwitz/Oświęcim „überstellt“. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie die Shoa überlebt hat.
Wir wissen noch, dass vermutlich ihre Schwester bei der UNRAA (der Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen) nach ihr suchte, ohne eine positive Antwort zu bekommen. Malvine Antscherl wird auf der Stele in roter Schrift geführt und gilt als ermordet.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Eröffnung einer Stele in Gedenken an die Opfer der Shoa im Umfeld der VHS kann nicht mit einem Happy End schließen oder uns gar mit Wohlfühlworten in den restlichen Tag entlassen.
Die Geschichte von Malvine Antscherl – einer fast unbekannten Volksbildnerin – ist stellvertretend zu sehen, für die anderen 164 in der Shoa ermordeten VHS-Mitglieder und für all die anderen Opfer der Shoa, von denen wir nicht viel mehr wissen, als ihre Namen.
Ich kann mich aber bei Ihnen und der VHS aufrichtig bedanken.
An die Opfer der Shoa aus dem Umfeld der VHS – wie es Malvine Antscherl war – wird ab heute und hier gedacht.
Danke für diese Hinwendung zu den Opfern und der Nennung ihrer Namen.
Wir werden sie in Ehren und Erinnerung behalten.
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