Herbert Steiners Rolle für die Erforschung und Darstellung der österreichischen Zeitgeschichte
Ansprache im Rahmen der Gedenkveranstaltung für Herbert Steiner (1923-2001), Wien, 18. Juni 2001
Mittlerweile selbst zur Zeitzeugin geworden, reicht meine Bekanntschaft und - wie ich vielleicht auch sagen darf - Freundschaft mit Herbert Steiner viele Jahrzehnte zurück. Ich habe ihn als unglaublich initiativen und lebensfrohen Menschen kennen gelernt, der der unumstrittene Mittelpunkt der ITH-Tagungen am Jägermayrhof war. Wir haben uns in unseren Arbeitszielen von Anfang an gut verstanden und eigentlich habe ich ihn immer um seine Schaffenskraft beneidet. Er hat, wie auch diese Gedenkveranstaltung beweist, die Leistungen mehrerer Leben erbracht, für die ihm Österreich nicht genug dankbar sein kann.
Herbert Steiners Weg zur wissenschaftlichen Zeitgeschichtsschreibung beginnt mit seinen persönlichen Erlebnissen im englischen Exil. Dass der noch nicht Sechzehnjährige nach Großbritannien flüchten musste, war eine Folge der nationalsozialistischen Machtübernahme, die er als Mitglied einer illegalen Mittelschülergruppe verhindern hatte wollen und von der er als Kind jüdischer Eltern doppelt betroffen war. Seine Mutter entstammte einer alten jüdischen Familie in Pottenstein an der Triesting, sein Vater war vor dem Ersten Weltkrieg aus dem slawonischen Bjelovar nach Wien zugewandert.
Im Juli 1938 wurde er - wie die anderen jüdischen Kinder auch - aus der Realschule in der Glasergasse im 9. Bezirk ausgeschlossen. Von einem ehemaligen Klassenkollegen gewarnt, dass seine Verhaftung bevorsteht, floh er - gemeinsam mit einem Freund - im Dezember 1938 über Deutschland und Holland nach Großbritannien.
Das Schicksal seiner Eltern konnte er erst nach 1945 in Erfahrung bringen - und auch da nur bruchstückhaft. Er wusste nur, dass sein Vater 1938 und 1939 verhaftet wurde, dass man ihn aber wegen seiner Kriegsauszeichnungen (er war im Ersten Weltkrieg schwer verwundet worden) wieder nach Hause gehen ließ.
Erst im Zuge des Dokumentationsprojekts "Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer" konnte das Schicksal des Ehepaares Heinrich und Valerie Steiner geklärt werden. Die beiden wurden mit dem "Transport Nr. 15" am 26. Jänner 1942 nach Riga deportiert; auf der Transportliste hatten sie die Nummern 719 und 720. Der Transport traf am 6. Februar 1942 am Bahnhof Skirotava ein. Nur 300 der 1.000 aus Wien Deportierten erreichten das Ghetto zu Fuß. Jenen, für die der kilometerlange Fußmarsch zum Ghetto zu beschwerlich war, wurde von der SS ein Transport auf Lastkraftwagen angeboten - tatsächlich handelte es sich dabei jedoch um getarnte "Gaswagen".
Es ist nicht bekannt, ob Herbert Steiners Vater im Rigaer Ghetto ankam. Die Mutter wurde am 9. August 1944 - wie so viele andere ins Baltikum deportierte österreichische Jüdinnen und Juden - in das KZ Stutthof gebracht, wo sie am 19. November 1944 starb. Auf dem Totenschein, den der Lagerarzt ausstellte, ist als Todesursache "Herz- und allgemeine Körperschwäche" vermerkt.
Herbert Steiner versuchte inzwischen, im englischen Exil seinen Beitrag zur Befreiung Österreichs zu leisten. Über die politische Seite hat schon Helmut Konrad berichtet. Ich möchte auf die literarhistorische und historiographische Bedeutung seines Wirkens eingehen, die, wie Winfried Garscha richtig betont, auch mit seiner Berufsausbildung zu tun hat.
Von 1939 bis 1942 absolvierte er eine Ausbildung als Schriftsetzer und Korrektor, besuchte anschließend Fortbildungskurse und spezialisierte sich auf den Satz fremder Sprachen. Als einziger Ausländer wurde er in die London Society of Compositors aufgenommen und leitete den österreichischen Exil-Verlag Jugend voran!.
Über diesen Verlag und durch seine Arbeit in den Exilorganisationen lernte Herbert Steiner eine Reihe von Schriftstellern, aber auch Künstler wie Oskar Kokoschka kennen. Die engste Beziehung unterhielt er mit seinem Alsergrunder Schulfreund Erich Fried. Ein für Herbert Steiner besonders wichtiges dieser gemeinsamen Projekte war eine Broschüre über den österreichischen Widerstand mit dem Titel "The Fight in the Dark", deren Text Erich Fried verfasste und die in großer Auflage verbreitet werden konnte.
Im englischen Exil entwickelte Herbert Steiner auch jenes lebenslange innige Verhältnis zu Werk und Person Jura Soyfers, das viele seiner Bemühungen bis in die letzten Lebensjahre prägte - und das, obwohl die beiden einander persönlich nie kennen gelernt hatten. Als Herbert Steiner vom Schicksal des 1939 im KZ Buchenwald umgekommenen Dichters erfuhr, begann er sich für die Sammlung, Aufführung und Herausgabe seines Werkes zu engagieren. Mit den Eltern Jura Soyfers wurde brieflich Kontakt aufgenommen. Aber mit der Veröffentlichung konnte erst nach 1945 begonnen werden. Gemeinsam mit Otto Tausig, der 1946 nach Österreich zurückgekehrt war, Helmut Qualtinger und vielen anderen engagierte er sich für die Herausgabe und Verbreitung der Werke Jura Soyfers und bemühte sich für die Freie Österreichische Jugend, deren Sekretär Herbert Steiner war, um die Rechte. Doch nicht nur an den Ausgaben in Österreich war er beteiligt, auch Werkausgaben im Ost-Berliner Verlag Volk und Welt und im Leipziger Reclam-Verlag entstanden mit seiner Unterstützung. Den größten Umfang hatte die Ausgabe, die er gemeinsam mit Heinz Kommenda und Erich Pogat vorbereitete und für die er den Germanisten Horst Jarka als Herausgeber gewann.
Gemeinsam mit Heinz Kommenda betrieb Herbert Steiner auch die Gründung der Jura Soyfer Gesellschaft, die am 30. Juni 1988 ihre konstituierende Sitzung hatte und zu deren erstem Präsidenten er gewählt wurde. Auch bei folgenden Projekten (zum Beispiel bei der Herausgabe der Briefe Jura Soyfers) war Herbert Steiner maßgeblich beteiligt. Und ebenso hat er sich über viele Jahre für das Jura Soyfer Theater eingesetzt, in dessen Vorstand er lange Zeit war. Von der Rezeptionsgeschichte Jura Soyfers ist Herbert Steiner daher nicht wegzudenken. Nicht nur in Österreich, sondern auch in Großbritannien, Deutschland, Tschechien und Italien hat er mit seinen vielfältigen Kontakten geholfen, dass Jura Soyfer bekannt wurde.
1958 nahm Herbert Steiner, der damals neben seiner Tätigkeit als Bezirkssekretär der KPÖ in Wien-Meidling auch als Verlagslektor für den Globus-Verlag tätig war, Kontakt mit Ludwig Jedlicka auf - dem ersten Dozenten für Neuere Geschichte, der Zeitgeschichte an einer österreichischen Universität lehrte. Er schlug ihm die Sammlung und Auswertung von Dokumenten über Widerstand und Verfolgung zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich vor. Jedlicka nahm Herbert Steiner in den kleinen Kreis seiner ersten Mitarbeiter auf und ermunterte ihn, extern Geschichte zu studieren. Über Freunde in Prag gelang es, diesen Plan an der Karls-Universität zu realisieren. 1963 verteidigte er eine Dissertation zur Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung 1867 bis 1889, zur feierlichen Promotion erschien neben dem österreichischen Botschafter auch Steiners Mentor Ludwig Jedlicka. Die Dissertation wurde 1964 sowohl in deutscher Sprache als auch in einer tschechischen Übersetzung veröffentlicht, die deutsche Ausgabe erschien als Band 2 der Veröffentlichungen der von Helmut Konrad schon erwähnten Arbeitsgemeinschaft für Geschichte der Arbeiterbewegung. Erst 1971 erfolgte übrigens die Nostrifizierung des Doktorats durch die Universität Wien. In dem kleinen Kreis um Ludwig Jedlicka, der von 1959 bis 1964 im Auftrag der Bundesregierung eine Dokumentation über den österreichischen Widerstand zusammenstellte, hatte Herbert Steiner den kommunistischen, Karl Stadler den sozialdemokratischen und der spätere Diplomat Georg Jankovic den katholisch-konservativen Widerstand übernommen. Eine Publikation der Forschungsergebnisse konnte in der geplanten Weise nicht erfolgen, sowohl wegen der damals noch rigorosen Archivsperren als auch wegen der Auflage der Regierung, keine Namen zu nennen.
Die ersten großen wissenschaftlichen Leistungen Herbert Steiners waren Dokumentationen. Neben der Mitarbeit am Jedlicka-Projekt war es vor allem die "Bibliographie zur Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung 1867 bis 1945", deren drei Bände 1962, 1967 und 1970 erschienen, sowie die von ihm bescheiden "Bibliographische Bemerkungen" genannte Geschichte der KPÖ von 1918 bis 1933, erschienen in einem deutschen Verlag - eine der ersten wissenschaftlichen Arbeiten zur Geschichte der Kommunistischen Partei Österreichs überhaupt. Eine weitere auch international beachtete Dokumentation war die gemeinsam mit Ludwig Jedlicka besorgte Edition der Akten der Historischen Kommission des Reichsführers SS über den Juli-Putsch 1934 der österreichischen Nationalsozialisten, die er 1965 herausbrachte. 1964 und 1968 erschienen zwei Dokumentationen letzter Briefe von Hingerichteten unter dem Titel "Zum Tode verurteilt" bzw. "Gestorben für Österreich". Diese erst 1995 in einer von Elisabeth Campagner besorgten Neuausgabe wieder aufgelegten Bände wurden nicht nur in mehrere Sprachen übersetzt, sondern kamen auch als Langspielplatte heraus, die Texte wurden von bekannten Schauspielern gelesen, unter ihnen Bruno Dallansky, Ernst Meister, Walther Reyer und Erika Pluhar.
Gleichzeitig begann Herbert Steiner mit seinen biographischen Arbeiten. Die erste erschien 1968 über die Gebrüder Scheu, drei bedeutende Persönlichkeiten aus der Frühgeschichte der österreichischen Arbeiterbewegung. Seine sicherlich bekannteste Biographie ist die berührende Lebensbeschreibung der von den Nationalsozialisten ermordeten Käthe Leichter - erschienen 1973, neu aufgelegt 1997, eines meiner persönlichen Lieblingsbücher.
Später hat er - gemeinsam mit der Journalistin Maria Sporrer - die Technik der virtuellen Befragung entwickelt, indem er Texte der von ihm vorgestellten Persönlichkeit zu bestimmten Fragen gruppierte. Falls die Personen noch lebten, ließ er diese nie geführten Interviews allerdings autorisieren. Derartige Bände erschienen über die Sozialistin Rosa Jochmann, den ÖVP-Politiker Fritz Bock und den KPÖ-Sekretär Erwin Scharf sowie über Michail Gorbatschow und Simon Wiesenthal. Vor allem die Arbeit über und mit Simon Wiesenthal war ihm wichtig, da Herbert Steiner - wie so viele - in der Auseinandersetzung Kreisky/Wiesenthal zu Gunsten des ihm auch persönlich verbundenen Bruno Kreisky Position bezogen hatte, was er später als seinen schwersten politischen Fehler einschätzte.
Erst nach der Öffnung der Archive in Osteuropa konnte Herbert Steiner an die Verwirklichung zweier biographischer Projekte gehen, mit denen er sich bereits seit vielen Jahren beschäftigt hatte: 1995 brachte er, mit Unterstützung der tschechischen Akademie der Wissenschaften, eine kleine Lebensbeschreibung mit Dokumenten des 1947 in einem sowjetischen Gefängnis verstorbenen langjährigen österreichischen Botschafters in Prag, Ferdinand Marek, heraus. Und bis zuletzt hat er an einer umfangreichen Biographie des Mitbegründers der KPÖ, Franz Koritschoner, gearbeitet, der im sowjetischen Exil verhaftet, an Hitler ausgeliefert und schließlich in Auschwitz ermordet wurde.
Herbert Steiners Hauptverdienst für die österreichische Forschung bestand aber weniger in dem, was er selbst an wissenschaftlichen Arbeiten vorgelegt hat - so beeindruckend sich seine Publikationsliste auch liest -, sondern in seiner Funktion als Anreger wissenschaftlicher Forschungen und populärwissenschaftlicher Darstellungen. An erster Stelle sind hier natürlich die Dokumentationsreihen des DÖW zu nennen.
Doch auch Journalisten und bedeutende Publizisten wie Hugo Portisch wussten seinen Rat zu schätzen, vor allem aber die vielen Studentinnen und Studenten, die seine Vorlesungen besucht haben, nachdem er 1982 als Dozent für Neuere Geschichte an der Universität Wien habilitiert wurde. Und es kennzeichnet seinen Zugang zur Wissensvermittlung, dass er zu diesen Vorlesungen oft auch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einlud - und dass er die schriftlichen Prüfungsarbeiten in den Bibliotheksbestand des Dokumentationsarchivs aufnahm und die Besten zu Diplomarbeiten und Dissertationen ermunterte.
Herbert Steiner wird in seinen dankbaren Schülern, seinen Mitarbeitern und in seinem Werk weiterleben.