Andreas Kranebitter: Zahlen als Zeugen
Diplomarbeit, Universität Wien, 2012 (Abstract)
Diese Arbeit wurde mit dem Herbert-Steiner-Förderpreis 2013 ausgezeichnet.
Forschungsthema und Fragestellungen
Nationalsozialistische Konzentrationslager sind seit Jahrzehnten nicht nur geschichtswissenschaftlicher, sondern auch soziologischer Forschungsgegenstand. SoziologInnen widmeten sich in ihren Untersuchungen meist der sogenannten "Häftlingsgesellschaft" der Lager, die sich unter Zwang und Terror konstituierte. Die Untersuchung dessen, was diese Gesellschaft zusammenhielt oder auseinandertrieb, die Untersuchung der sozialen Dynamiken, der sich herausbildenden Normen, Werte und Verhaltensweisen, interessiert dabei nicht nur aus historischen Gründen, sondern auch vor dem Hintergrund unseres heutigen gesellschaftlichen "Normalzustands". Bei der soziologischen Betrachtung eines historischen Forschungsgegenstands wie den KZ schwingt die Frage mit, ob ein derartiger Ausnahmezustand überhaupt mit den "herkömmlichen" und "normalen" Konzepten und Methoden der Soziologie erfasst und gefasst werden kann.
Die bisherige soziologische KZ-Forschung ist gerade in dieser Hinsicht zu gegensätzlichen Schlussfolgerungen gekommen - sind die KZ für die einen die "Grenze des Sozialen" (Wolfgang Sofsky), das völlig Neue und Andere, das zur Entwicklung neuer Konzepte treibt, so sahen andere in den KZ einen "Extremfall des Sozialen" (Maja Suderland), der in sinnvoller Weise mit gängigen soziologischen Konzepten (wie Bourdieus Habitustheorie) und Methoden erforscht werden kann. Basis dieser Debatten waren bisher qualitative Methoden, die sich mit den Memoiren der Überlebenden beschäftigen. Ausgangspunkt und Ziel dieser Diplomarbeit war es, durch die statistische Auswertung anderer Quellensorten in diese Debatte zu intervenieren.
Forschungsdesign und Methodik
Quantitative Auswertungen historischer Daten müssen zunächst im historischen Diskurs verortet werden. Daher muss jeder Analyse eine kritische Quellenanalyse vorausgehen. Das ist im Falle der KZ-Quellen, wo die für Auswertungen zur Verfügung stehenden sogenannten prozessproduzierten Daten SS-produzierte Daten der Konzentrationslagerverwaltung sind, von besonderer Bedeutung. Diese problematischen Daten erfordern eine vorsichtige, sich der Grenzen der machbaren Aussagen bewusste Anwendung quantitativer Methoden. Nichtsdestotrotz sind sie ein in der historischen KZ-Forschung oft ignorierter Quellen-Fundus, der einen bestimmten Ausschnitt der Realität der KZ abbildet.
Die zur Verfügung stehenden Daten sind die im Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen aus diversen historisch überlieferten Quellen erstellten Datenbanken. Über 500.000 Datensätze aus über 20 Datenbanken, die Informationen zu insgesamt fast 168.000 namentlich bekannten KZ-Häftlingen enthalten, wurden hier in den letzten Jahren verknüpft und in dieser Arbeit ausgewertet.
Bereits einfache quantifizierende Darstellungen bieten die Möglichkeit, "Muster" hinter Phänomenen wie der "täglichen Sterblichkeit" in den Konzentrationslagern zu erkennen. Das war bereits den Überlebenden der Lager selbst bewusst. Hermann Langbein, Auschwitz-Überlebender und ehemaliger Schreiber des SS-Standortarztes in Auschwitz, schrieb dazu in seinem Buch Menschen in Auschwitz: "Wenn zum Beispiel im Stammlager täglich durchschnittlich zehn bis fünfzehn Todesfälle zu melden waren, an einem Wochentag die Todeszahl jedoch auf 75 hinaufschnellte, dann war nicht zu übersehen, daß an diesem Tag etwa 60 Tötungen vorgenommen worden waren. Aus summarischen Meldungen wäre das nicht abzulesen gewesen". Der Einsatz deskriptiver Statistiken kann hier insofern bereits die konfirmatorische Funktion erfüllen, bisherige Forschungsthesen zu bestätigen oder zu falsifizieren, oder auch explorativ zur Ableitung neuer Thesen anregen.
Geht es um die Suche nach den Ursachen für die deskriptiv beobachteten Muster, so stellt sich bald die Frage nach aussagekräftigen und messbaren Indikatoren. Sowohl aus den Erinnerungen der Überlebenden als auch der geschichts- und sozialwissenschaftlichen Fachliteratur lässt sich hier behaupten, dass sich - in den Worten des Historikers Falk Pingel - "die funktionalen Änderungen, die Einlieferungsstöße, die materielle Ausstattung, differenzierte Behandlungsweisen [...] in der Regel in der Sterblichkeit nieder[schlagen]".
In dieser Arbeit wurden daher multivariate Modellierungen zur - in der nüchternen Sprache der Statistik formuliert - "Erklärung" der Mortalität der Häftlinge als abhängiger Variable berechnet. Methodisch handelt es sich dabei vor allem um lineare und logistische Regressionsmodelle. Ziel ist es letztendlich, durch die gleichzeitige Messung der Strukturmerkmale der sogenannten Häftlingsgesellschaft Aussagen über die Konstituierung der "sozialen Ordnung" dieser Gesellschaft machen zu können.
Ergebnisse
Statistische Auswertungen historischer Daten können gerade dort sinnvoll eingesetzt werden und historisch relevante Erkenntnisse produzieren, wo nur wenige andere qualitativ auswertbare Quellen existieren. In Bezug auf die nationalsozialistischen Konzentrationslager trifft dies insbesondere auf stigmatisierte Häftlingsgruppen wie die sogenannten "kriminellen" und "asozialen" Häftlinge zu, die selbst kaum Zeugnisse hinterlassen haben, oder auf Gruppen wie sowjetische Kriegsgefangene, von denen nur wenige überlebt haben. Quantitative Methoden können hier als Korrektiv dienen. Als Beispiel können hier zunächst die sogenannten "Kriminellen" genannt werden: meist als Gruppe brutaler "Kapos" und verlängerter Arm der SS erinnert, zeigen statistische Auswertungen, dass die allgemein zu beobachtenden Dynamiken des Lagers auch für sie galten. Auch von ihnen starb über alle Phasen des KZ hinweg ein großer, zeitweise sogar höherer Anteil als von anderen Gruppen, der belegt, dass sie als Gruppe keine kollektive Besserstellung erfuhren. Ein weiteres Beispiel ist die Gruppe der ersten sowjetischen Kriegsgefangenen, die im Oktober 1941 ins KZ Mauthausen-Gusen deportiert worden waren. Die historische Quellenlage ist hier widersprüchlich - ehemalige SS-Angehörige rechtfertigten nach dem Krieg das Massensterben der Kriegsgefangenen mit deren zuvor angeblich "schlechtem physischen Zustand", die äußerst seltenen Zeugnisse der Überlebenden geben wenig Aufschluss, in Gerichtsverfahren wurden die (meist "kriminellen") Zeugen als unglaubwürdige Zeugen und tendenzielle Täter abgestempelt. Statistische Auswertungen legen relativ eindeutig den Schluss nahe, dass die SS hier eine (in den Worten des Historikers Reinhard Otto) "aktive und passive Vernichtungspolitik" betrieb.
Eines der wesentlichen Ergebnisse der Arbeit ist, dass die Frage, welche Faktoren entscheidenden Einfluss auf die Sterblichkeit der Inhaftierten hatten, nur durch die Anwendung multivariater Verfahren interpretiert werden kann. Oft beobachtete Zusammenhänge, wie etwa die Bedeutung der Nationalität für die Überlebenswahrscheinlichkeit, entpuppen sich mitunter als Scheinkorrelationen. Erst die gleichzeitige Messung verschiedener Variablen wie Alter, Haftkategorie, Nationalität, Inhaftierungszeitpunkt und Inhaftierungsdauer macht die Größe der einzelnen Einflüsse schätzbar. Die Berechnungen eines multivariaten Modells zur Erklärung der Sterblichkeit legen den Schluss nahe, dass der Einfluss der äußeren Umstände, das heißt von Inhaftierungszeitpunkt und Inhaftierungsdauer, die Bedeutung anderer individueller Merkmale überstiegen hat. Darüber hinaus scheinen soziodemographische Daten wie Alter oder Beruf eine größere Bedeutung als die Kategorisierungen der SS ("Nationalität" und "Haftkategorie") gehabt zu haben.
Schlussfolgerungen
In Rückbeziehung der statistischen Auswertungen dieser Arbeit auf die soziologische Theorien zur Häftlingsgesellschaft lässt sich feststellen, dass - anders als gerade von geschichtswissenschaftlicher Seite oft betont - die "Sterbewahrscheinlichkeit" nicht so sehr von individuellen Eigenschaften abhing, als vielmehr von objektiv unbeeinflussbaren "hard facts" - das Alter konnten sich die Inhaftierten ebenso wenig frei wählen wie ihren Einlieferungszeitpunkt. Noch weniger kann die gerade von sozialpsychologischer Seite oft unternommene Suche nach dem "Survivor-Typus" Gültigkeit beanspruchen, die das Überleben mit besseren Anpassungsleistungen zu erklären versucht. Letztlich können die Ergebnisse allerdings auch als Gegengewicht gegen die u. a. von Sofsky vertretene konstruktivistische These ins Feld geführt werden, die Kategorien "Nationalität" und "Haftkategorie" hätten die Situation des Einzelnen am bedeutendsten geprägt und definiert.
Quantitative Analysen, die auf prozessproduzierten Daten der KZ-Verwaltung basieren, können also neue Thesen in geschichts- und sozialwissenschaftliche Debatten einbringen und zur Relativierung mancher These beitragen. Der Einsatz statistischer Verfahren an der Schnittstelle zwischen Soziologie und Geschichte kann auch in Bezug auf extreme gesellschaftliche Verhältnisse qualitative und theoriegeleitete soziologische Forschungen sinnvoll ergänzen oder korrigieren. Die Berechnungen von Modellen, wie sie in dieser Arbeit in Bezug auf das KZ Mauthausen-Gusen versucht wurden, müssen dabei aber mit der mikrosoziologischen Analyse sozialer Situationen verbunden werden. Die Forschung muss jedenfalls auch über eine genaue Kenntnis der historischen Bedingungen und der überlieferten Quellen verfügen, um Fehlschlüsse zu vermeiden.
Andreas Kranebitter: Politikwissenschaftler und Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Wien
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