Christiane Hess: Ein/gezeichnet
(Universität Bielefeld)
Diese Arbeit wurde mit dem Herbert-Steiner-Preis 2024 ausgezeichnet.
Abstract:
Visuelle Selbstzeugnisse von Häftlingen der Konzentrationslager Ravensbrück bei Berlin und Neuengamme bei Hamburg stehen im Mittelpunkt der Studie. Neben Zeichnungen und Skizzen, die in situ entstanden sind, werden in der Arbeit bildliche Darstellungen hinzugezogen, die unmittelbar nach der Befreiung bis ca. 1947/48 von Überlebenden gefertigt und zum Teil veröffentlicht wurden. Die Frage nach den verwendeten Materialien, Bedeutungen und Funktionen wie auch Rezeptionsweisen bildet den roten Faden der Untersuchung und bedingt die Auswahl der theoretischen und methodischen Ansätze.
Die Studie fragt danach, was und wie diese – hinsichtlich Materialität, Ästhetik und Sujets unterschiedlichen – Zeichnungen zu-sehen-geben und was nicht dargestellt wurde. Wie haben weibliche und männliche KZ-Häftlinge den Lageralltag, sich selbst und ihre Mithäftlinge, Erfahrungen von Zwangsarbeit, Gewalt, Tod und Erinnerungen oder auch Träume auf Papier und anderen Materialien festgehalten? Mit einem kulturgeschichtlichen und bildwissenschaftlichen Zugriff erweitert die Forschungsarbeit so die KZ-Forschung hinsichtlich der Analyse des visuellen Archivs der Lager. Die Perspektive der Häftlinge, ihre kulturellen Vorstellungen und ihre Praktiken der Selbstbewahrung rücken dabei in den Fokus. Die geschlechtergeschichtliche Perspektive erlaubt es zudem, erstmals sowohl Männlichkeits- als auch Weiblichkeitskonstruktionen anhand des visuellen Materials (Zeichnungen, aber auch Fotografien) sowie hinsichtlich der Selbstverständnisse der Zeichner*innen als KZ-Häftlinge, Künstler*innen, als Zeug*innen und Überlebende systematisch zu untersuchen.
Zeichnungen und Zeichnen waren Teil – nicht nur – der individuellen, sozio-kulturellen, sondern auch einer kollektiven Praxis im Lager, so ein Ergebnis der Studie. Wie in der Arbeit gezeigt wird, ermöglicht es das Medium Zeichnung und die Materialität der Zeichnungen, auch über die Darstellbarkeit von Gewalterfahrungen und Schmerz zu reflektieren. Darüber hinaus konnte anhand einzelner Fallgeschichten die Bedeutung von Zeichnungen bei der Bildung partikularer Bildgedächtnisse der ausgewählten Lager und ihre verschiedenen Rezeptionsweisen, Reproduktions- und Distributionsmöglichkeiten nach 1945 herausgearbeitet werden. Mit der Recherche der insgesamt über 900 Zeichnungen, von denen 190 exemplarisch für die Studie ausgewählt wurden, war die bisher nur ansatzweise erfolgte (Re-)Konstruktion biografischer Skizzen der Bildproduzent*innen verbunden.
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