Abstract
Diese Arbeit wurde mit dem Herbert-Steiner-Preis 2012 ausgezeichnet.
Die "Mühlviertler Hasenjagd" - der Massenausbruch von etwa 500 sowjetischen Offizieren aus dem "Todesblock" des KZ Mauthausen am 2. Februar 1945 - steht wie kaum ein anderes Ereignis der Zeitgeschichte für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik auf österreichischem Boden, ebenso wie für die Verstrickung der österreichischen Zivilbevölkerung in diese Verbrechen. Obgleich diese Geschichte, vor allem durch Andreas Grubers Film Vor lauter Feigheit gibt es kein Erbarmen, österreichweit und international bekannt ist, war über die Genese dieser Mordaktion, die Opfer und die wenigen Überlebenden in der Sowjetunion kaum etwas bekannt.
Die vorliegende Arbeit versucht, diese Lücke an Hand umfangreicher Quellenbestände aus österreichischen, deutschen, russischen und ukrainischen Archiven und privaten Sammlungen zu schließen. Systematisch werden die Hintergründe der "Mühlviertler Hasenjagd" untersucht. Beginnend mit der Kreation einer nationalsozialistischen Mordaktion - der "Aktion Kugel" - werden die Wege der Opfer nach Mauthausen nachgezeichnet. Obwohl diese Häftlingsgruppe - die sogenannten "K-Häftlinge" -, insgesamt 5.040 Personen, welche von Februar 1944 bis Februar 1945 in Mauthausen eintrafen, nicht registriert wurde, konnten 560 namentlich ermittelt werden. Während zu Beginn dieser Mordaktion hauptsächlich zivile Zwangsarbeiter, welche der Sabotage verdächtigt wurden, ermordet werden sollten, wurden bald fast ausschließlich sowjetische Offiziere, welche von ihrem Arbeitskommando geflohen und wiederergriffen worden waren, in diese Mordaktion einbezogen. Nur ein kleiner Teil der Opfer wurde unmittelbar nach der Ankunft in Mauthausen ermordet - die überwiegende Mehrheit wurde in der hermetisch abgeriegelten Baracke 20 durch Nahrungsentzug und Quälereien langsam zu Tode gebracht. Für die Darstellung der inneren Verhältnisse im "Todesblock" und die Organisation der Massenflucht sind die handschriftlichen Aufzeichnungen der acht bekannten Überlebenden, die hier erstmals publiziert werden, die einzige Quelle. Die Verfolgungsmaßnahmen der "Mühlviertler Hasenjagd" werden minutiös an Hand der Aussagen der Beteiligten analysiert - der Geflohenen ebenso wie der beteiligten SS-Männer, Volkssturmangehörigen, "Bystanders" und der wenigen, die den Häftlingen trotz des enormen Risikos halfen.
Auch die Nachgeschichte der "Mühlviertler Hasenjagd" wird berücksichtigt. Zunächst analysiert die Arbeit die juristische Aufarbeitung der Verfolgungsmaßnahmen in Österreich: So wurden vierzehn Personen von sowjetischen Militärtribunalen verurteilt und hingerichtet bzw. in den GULag gebracht, während sich sechzehn weitere Täter vor österreichischen Volksgerichten zu verantworten hatten.
Ein ganz wesentlicher Aspekt ist auch die konfliktträchtige "Ausverhandlung" einer "Meisterzählung" durch die acht Überlebenden in der Sowjetunion. Dabei ist der spezifische Entstehungskontext dieser Erinnerungsberichte um 1960 zu beachten: Nach dem Ende des Stalinismus, wo alle KZ-Überlebenden pauschal als "Verräter" verunglimpft und verfolgt worden waren, erhielten die Überlebenden der "Mühlviertler Hasenjagd" als erste Gruppe von ehemaligen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion öffentliche Anerkennung. Der Rechtfertigungsdruck, als Kriegsgefangener überlebt zu haben, und der Versuch, die eigene Rolle als möglichst heldenhaft darzustellen, ist in den Erinnerungen omnipräsent.
Schließlich wird noch die öffentliche und künstlerische Auseinandersetzung mit diesen Ereignissen in Österreich untersucht, wobei besonders auf den Prozess der Wiederbeschäftigung mit dieser Thematik eingegangen wird, welcher in den 1970er-Jahren durch die Bemühungen Peter Kammerstätters begann und in den letzten fünfzehn Jahren durch den Film Andreas Grubers und die Aufstellung von Denkmälern ihren Höhepunkt fand.
Publikation
Matthias Kaltenbrunner
Flucht aus dem Todesblock
Der Massenausbruch sowjetischer Offiziere aus dem Block 20 des KZ Mauthausen und die "Mühlviertler Hasenjagd" - Hintergründe, Folgen, Aufarbeitung
StudienVerlag 2012, 448 Seiten, mit zahlreichen s/w-Abbildungen
ISBN: 978-3-7065-5175-5
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