Dissertation, Universität Wien, 2012 (Abstract)
Diese Arbeit wurde mit dem Herbert-Steiner-Preis 2013 ausgezeichnet.
Ein wichtiges Element der Repressionsmaßnahmen gegen politisch Oppositionelle im Austrofaschismus stellten die Anhaltelager dar, deren größtes im September 1933 auf dem Gelände der ehemaligen k.u.k. Munitionsfabrik Wöllersdorf (NÖ) eingerichtet wurde. Die Regierungsverordnung "über die Verhaltung sicherheitsgefährlicher Personen in einem bestimmten Orte oder Gebiete", erlassen aufgrund des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes von 1917, ermöglichte, dass männliche Parteiangehörige der KPÖ, NSDAP und – nach den Februarkämpfen 1934 – auch der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) aufgrund von verbotener politischer Betätigung vorbeugend interniert wurden. Vielfach wurden politische Häftlinge jedoch nach Verbüßung von gerichtlichen oder polizeilichen Freiheitsstrafen für weitere Monate "zwecks Hintanhaltung von Störungen der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit" ins Lager verbracht, wo sie in der Regel nach politischer Zugehörigkeit separiert untergebracht wurden und leichtere Arbeiten am Lagergelände durchführen mussten. Die "schwere Zwangsarbeit" außerhalb des Lagers, zu der die Häftlingsgruppe der am gescheiterten NS-Juliputsch 1934 "Minderbeteiligten" de iure verhalten war, wurde aus ökonomischen Gründen sowie mangels praktischer Durchführungsmöglichkeiten nicht realisiert. Die Häftlinge blieben weitgehend von körperlichen Übergriffen und Misshandlungen verschont. Allerdings bedeutete die Anhaltung, von einem Unrechtsregime der grundrechtlich garantierten persönlichen Freiheit beraubt zu sein. Die den Häftlingen auferlegten Schikanen bestanden vor allem in der Ausübung psychischer Gewalt, der langen Trennung von den Angehörigen, der erzwungenen Untätigkeit sowie der monatelangen Unterbringung auf beengtem Raum. Außerdem hatten die Häftlinge ihren Aufenthalt im Anhaltelager selbst zu bezahlen, wozu die wenigsten mangels Arbeit und Vermögens in der Lage waren. Die Angehaltenen reagierten unter anderem mit zahlreichen Hungerstreiks, politischen Demonstrationen, aber auch Suizid(-versuchen) auf diese Zustände.
Nach größeren Entlassungswellen, besonders ab dem Juliabkommen 1936, wurden infolge der Generalamnestie im Februar 1938 die letzten in Wöllersdorf verbliebenen Häftlinge auf freien Fuß gesetzt. Nach dem "Anschluss" nutzten die nationalsozialistischen Machthaber das nunmehr in "Wöllersdorf-Trutzdorf" umbenannte ehemalige Anhaltelager kurzfristig als "Schutzhaftlager". Teile des Lagerinventars aus Wöllersdorf kamen später im neu errichteten nationalsozialistischen Konzentrationslager Mauthausen zum Einsatz.
Obgleich sich der Begriff "Wöllersdorf" besonders im ostösterreichischen kommunikativen Gedächtnis als Erinnerungsort konstituiert hat, stellt die Erforschung der Anhaltung im Austrofaschismus weitgehend ein Desiderat innerhalb der österreichischen Zeitgeschichte dar, weshalb die vorliegende Untersuchung der Grundlagenforschung zuzurechnen ist. Bezüglich des Lagers selbst, das im Mittelpunkt der Betrachtungen steht, werden – mithilfe umfassender Archiv- und Literaturrecherchen, der Analyse von zeitgenössischen Medien und Zeitzeugenberichten sowie rechtshistorischer Untersuchungen und statistischer Auswertungen – Lagerstruktur, Häftlingskollektive und Lageralltag inklusive medizinischer Versorgung und Ernährung, Widersetzlichkeit, Vermögensentzug und Zwangsarbeit sowie die Durchführungsinstanzen der Anhaltung erstmals umfassend erforscht. Dazu wird der Lagerbegriff, wie er in der allgemeinen Lagertheorie, u. a. bei Giorgio Agamben oder Ulrich Herbert, gebraucht wird, diskutiert und eine – bisher nicht geleistete – Einordnung Wöllersdorfs in die Geschichte der Lager vorgenommen. Ziel der Arbeit ist es, die großen Forschungslücken hinsichtlich der österreichischen Anhaltelager der Jahre 1933 bis 1938 zu schließen und Wöllersdorf im Rahmen der internationalen Lagerdiskussion zu verorten. Neben der erstmals umfassenden und detailreichen Darstellung des Lagers, seiner Häftlinge und seines Alltags bietet die Untersuchung auch neue Einblicke in das politische System in Österreich 1933 bis 1938.
Pia Schölnberger: Historikerin, Provenienzforscherin in der Grafischen Sammlung Albertina im Auftrag der Kommission für Provenienzforschung (BMUKK), Wien
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