BeGrenzte Flucht: Die österreichischen Flüchtlinge an der Grenze zur Tschechoslowakei im Krisenjahr 1938
Wolfgang Schellenbacher gibt einen Überblick über Aufbau und Inhalte der Online-Edition, die im Juni 2018 im DÖW vorgestellt wurde.
begrenzte-flucht.ehri-project.eu
Herausgeber: Michal Frankl, Wolfgang Schellenbacher
Mit Unterstützung durch:
Zukunftsfonds der Republik Österreich
European Holocaust Research Infrastructure (EHRI)
Die tschechoslowakische Flüchtlingspolitik vor dem "Anschluss"
Vertreibung der burgenländischen Jüdinnen und Juden
Der Journalist Richard Bermann versuchte wie viele andere vom NS-Regime bedrohte ÖsterreicherInnen in der Nacht vom 11. auf 12. März 1938 vergeblich, mit dem völlig überfüllten Nachtzug in die Tschechoslowakei zu fliehen. Als etwa 180 österreichische Flüchtlinge an der Grenze abgewiesen werden sollten, appellierte Bermann in einem Telegramm an den Präsidenten der Tschechoslowakei, die Flüchtlinge aufzunehmen:
"Praesident dr benes prag =+ breclav /2 121 34/32 12 0504 = = im namen der an der grenzstation breclav aufgehaltenen oesterreichischen fluechtlinge und im eigenen apelliere ich an die menschlichkeit der tschechoslowakischen demokratie arnold hoellriegel redakteur der stunde passname dr bermann =+" (1)
Das Telegramm dokumentiert sowohl den Beginn der Flucht aus Österreich in eines der wichtigsten Exilländer nach dem "Anschluss" 1938 wie auch die rasche Grenzsperre der Tschechoslowakei für Jüdinnen und Juden.
Die Flucht und Vertreibung von tausenden Menschen über die österreichisch-tschechoslowakische Grenze und die zunehmend restriktive Flüchtlingspolitik der Tschechoslowakei stellen ein wichtiges, aber zugleich bislang vernachlässigtes Kapitel der österreichisch-tschechoslowakischen Geschichte sowie der Geschichte der Shoah dar. Trotz des Stellenwerts der Tschechoslowakei als eines der bedeutendsten Exilländer für vertriebene jüdische ÖsterreicherInnen wurden die Flucht und die Rolle, welche die Grenzregion dabei eingenommen hatte, in beiden Ländern nur ungenügend wissenschaftlich aufgearbeitet und sind in der Öffentlichkeit kaum bekannt.
Eine vom Zukunftsfonds der Republik Österreich geförderte Online-Edition führt nun zum ersten Mal österreichische und tschechische Archivmaterialien zusammen, ergänzt sie mit Dokumenten aus anderen Ländern und ermöglicht dadurch neue Perspektiven und eine detaillierte Erforschung der Flüchtlingspolitik sowie des Flüchtlingsstroms im Krisenjahr 1938.
Die Edition BeGrenzte Flucht – die österreichischen Flüchtlinge an der Grenze zur Tschechoslowakei im Krisenjahr 1938 enthält amtliche Berichte, Korrespondenzen und diplomatische Noten ebenso wie Dokumente jüdischer Hilfsorganisationen.
Ausgewählte Zeitungsartikel illustrieren die Reaktionen der Öffentlichkeit – vor allem die Überzeichnung der angeblichen Gefahr und die antisemitischen Reaktionen auf die Flucht.
Besondere Aufmerksamkeit legt die Edition auf Dokumente, die Zeugnis über die persönlichen Fluchterfahrungen und die Fluchtrouten ablegen. Die Herausgeber wählten dazu vor allem (selten) überlieferte Protokolle, die tschechoslowakische Behörden mit den österreichischen Flüchtlingen aufnahmen. Um auch die Perspektiven von Personen abseits einer politisch, kulturellen Elite besser erfassen zu können, wurden vereinzelt auch spätere Zeitzeugenberichte in die Edition aufgenommen.
Technische Umsetzung
Die Online-Edition verlinkt Schlagworte, Lager, Organisationen und Einzelpersonen in den Texten mit den Ressourcen des Portals der European Holocaust Research Infrastructure (EHRI). Informationen können direkt neben den Transkriptionen angezeigt werden.
Die in der Edition integrierten Dokumente wurden unter Verwendung des Portals Geonames.org. kartografisch verortet. Die Darstellung aller Dokumente auf Karten macht eine Visualisierung der Bewegungsbahnen der Flucht und der Interaktionen im Grenzgebiet möglich.
Das Frontend der Edition basiert auf der Omeka open-source Web-Plattform, die von Museen, Archiven und kulturellen Einrichtungen verwendet wird, um digitale Sammlungen zu publizieren. Dabei wurde ein TEI (Text Encoding Initiative) Editionen-Plugin für Omeka verwendet, das durch das EHRI-Projekt entwickelt wurde und es erlaubt, Einträge, die in XML/TEI im P5 Format, einem de facto Standard für textbasierte Editionen, kodiert wurden, in Omeka zu erstellen und mit Metadaten zu befüllen. Neben einer Volltextsuche steuern die in TEI markierten Entitäten das Facetted Browsing und erlauben es, nach Entitäten wie Orten, Begriffen etc. zu filtern.
Die tschechoslowakische Flüchtlingspolitik vor dem "Anschluss"
In die Online-Edition wurden auch Dokumente integriert, die Auskunft über die tschechoslowakische Flüchtlingspolitik vor dem "Anschluss" geben. Die Tschechoslowakei war ab 1933 ein zumindest partiell toleranter Zufluchtsort für Menschen aus NS-Deutschland – ab dem Februar 1934 auch für politische Flüchtlinge aus Österreich. Der Staat reagierte jedoch wie die meisten europäischen Länder: Flüchtlingen fiel es in den ersten Jahren relativ einfach, die Grenzen zu überschreiten, viel schwieriger erwies sich aber ihre längerfristige Perspektive im Exil. Ab Mitte der 1930er-Jahre wurde die liberale Politik der zeitweiligen Duldung schrittweise zurückgenommen und letztendlich abgeschafft. Das 1935 in der Tschechoslowakei erlassene Gesetz über den Aufenthalt von Ausländern erschwerte die Situation für Flüchtlinge, die nun regelmäßig um eine Bewilligung über ihren Verbleib ansuchen mussten.
Die 1935 im Deutschen Reich erlassenen "Nürnberger Gesetze" machten Jüdinnen und Juden zu Reichsangehörigen statt zu StaatsbürgerInnen und die strikte Anwendung des Ausbürgerungsgesetzes von 1933 verunmöglichte eine Rückkehr jüdischer Flüchtlinge nach NS-Deutschland. Dies trug dazu bei, dass diese Personengruppe in der Tschechoslowakei nicht mehr als Flüchtlinge betrachtet wurde. Der Entzug der Staatsbürgerschaft machte sie zu unerwünschten MigrantInnen und reaktivierte oftmals tief verankerte Stereotype von "Ostjuden".
Der "Anschluss"
Der "Anschluss" Österreichs an NS-Deutschland im März 1938 markierte den endgültigen Wendepunkt der bereits erodierenden Migrationsmechanismen in den meisten europäischen Staaten. (2) In der Tschechoslowakei sprach das Innenministerium bereits am 11. März ein allgemeines Einreiseverbot für österreichische Flüchtlinge aus. Mehrere Staaten wie Großbritannien oder die Schweiz führten eine Visumpflicht für österreichische StaatsbürgerInnen ein und innerhalb kurzer Zeit schlossen auch die anderen Nachbarstaaten Österreichs ihre Grenzen für jüdische Flüchtlinge.
Der "Anschluss" 1938 markierte aber auch den Beginn der massenhaften Entrechtung, Enteignung, Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Bereits in der Nacht vor dem "Anschluss" begannen Nationalsozialisten und deren Sympathisanten, bekannte politische GegnerInnen des NS-Regimes und Jüdinnen und Juden zu verhaften, zu demütigen und auszurauben. Oftmals wurden Jüdinnen und Juden fremder bzw. ohne Staatsangehörigkeit – vor allem sogenannte "Ostjuden" – zur ersten Zielscheibe staatlicher Gewalt. Wie mehrere Dokumente der Online-Edition BeGrenzte Flucht zeigen, führte dieses "Anschluss"-Pogrom in vielen Orten auch zu ersten Vertreibungen und zur Massenflucht.
Ein Bericht eines Vorstandsmitglieds der jüdischen Gemeinde Frauenkirchen beschreibt, wie derartige Misshandlungen direkt nach dem "Anschluss" auch zur Vertreibung der Bevölkerung führten:
"Am folgenden Tag zwang man die Verhafteten durch Schläge zur Unterschrift eines Revers, wonach ihr Hab und Gut zum Staatseigentum erklärt wurde und sie sich verpflichteten, innerhalb 48 Stunden das Land zu verlassen. Die meisten dieser Familien haben sich nach der Tschechei gerettet." (3)
Die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) Wien wurde nach dem "Anschluss" aufgelöst und im Mai 1938 in veränderter Struktur unter dem Namen Jüdische Gemeinde Wien wiedereröffnet. Ihre Hauptaufgabe lag nun in der Linderung der Not der Verfolgten durch Fürsorgemaßnahmen, der Vorbereitung auf die Auswanderung durch Umschulungen und der Organisation der Massenflucht in Kooperation mit dem NSRegime. Die Bedeutung der Jüdischen Gemeinde Wien für Hilfeleistungen für Jüdinnen und Juden und die "Ausreise" aus dem Deutschen Reich geht aus Ansuchen und Bittschreiben hervor.
In der Tschechoslowakei waren geflohene Jüdinnen und Juden für ihre tagtäglichen Bedürfnisse, für die Unterstützung bei Behörden und vor allem bei der Vorbereitung zur Auswanderung zunehmend von Hilfsorganisationen abhängig. Dabei handelte es sich hauptsächlich um private, entlang konfessioneller oder politischer Linien gegründete Komitees für jene Flüchtlinge, die kaum staatliche Unterstützung erhielten. Dementsprechend schwierig gestaltete sich die Lage der Flüchtlinge in der Tschechoslowakei, sofern sie nicht durch Familienangehörige versorgt wurden. Die in die Online-Edition aufgenommenen Dokumente zeigen, dass jüdische Flüchtlinge vor allem auf die Hilfe lokaler jüdischer Hilfsorganisationen und Kultusgemeinden angewiesen waren. Obwohl diese durch transnationale jüdische Organisationen wie dem JOINT oder die HICEM unterstützt wurden, reichten die Mittel bald nicht mehr aus.
Vertreibung der burgenländischen Jüdinnen und Juden
Die Verwendung von Karten in der Online- Edition für alle Dokumente verdeutlicht auch, dass in der Grenzregion des Burgenlandes Jüdinnen und Juden als Nicht-StaatsbürgerInnen behandelt wurden (4) und kleinere Gruppen über die nahen Grenzen in die Tschechoslowakei, nach Ungarn und Jugoslawien vertrieben wurden. Alle drei Nachbarstaaten reagierten mit Grenzsperren und schickten die Vertriebenen zurück.
Die Radikalität der burgenländischen Ausweisungspraxis sowie der restriktive Charakter der Flüchtlingspolitik der Nachbarstaaten wird durch den Fall der Jüdinnen und Juden aus Kittsee und Pama vor Augen geführt. Sie wurden in der Nacht vom 16. auf 17. April 1938 durch die SA aus ihren Häusern geholt und auf eine Donauinsel unterhalb der tschechoslowakischen Ortschaft Theben (Devín) gebracht. Die Geschwindigkeit der Vertreibung wird etwa in den Erinnerungen Aron Grünhuts deutlich:
"Die Flüchtlinge berichteten, sie seien buchstäblich vom Sedertisch in bereitstehende Lastautos getrieben worden, ohne auch nur etwas Kleidung oder Nahrung mitnehmen zu dürfen und auf der Donauinsel ausgesetzt worden." (5)
Die tschechoslowakischen Behörden erlaubten der orthodoxen jüdischen Gemeinde in Bratislava zwar, die österreichischen Jüdinnen und Juden mit Essen zu versorgen; danach wurden sie jedoch wieder ins Burgenland abgeschoben. Ähnliche Vorgänge wiederholten sich anschließend an der österreichisch-ungarischen Grenze und ein Teil dieser Menschen verblieb in elenden Bedingungen im Niemandsland. Eine Reihe von Dokumenten zur Vertreibung burgenländischer Jüdinnen und Juden wurde in die Edition aufgenommen.
Sie zeigen, wie sich letztendlich die orthodoxe jüdische Gemeinde in Bratislava gezwungen sah, die Vertriebenen auf einem Schleppboot unterzubringen. Erst nach vier Monaten gelang es den Hilfsorganisationen im August 1938 unter Druck der ungarischen Regierung (6) die Auswanderung für diese Flüchtlingsgruppe nach Palästina und in die Vereinigten Staaten zu organisieren.
Die Zusammenführung von österreichischen und tschechischen Archivmaterialien zeigt auch, dass in den folgenden Monaten vorwiegend jüdische Flüchtlinge und Vertriebene an der Grenze strikt abgewiesen wurden. Im Frühling und Sommer 1938 wurden die Wiesen und Wälder in Südmähren sowie die Donauufer an der Grenze zur heutigen Slowakei zu einem einzigen großen Fahndungsgebiet. Die tschechoslowakischen Behörden schickten tausende Flüchtlinge zurück auf das Gebiet des ehemaligen Österreich, egal ob sie die Grenze legal oder illegal zu übertreten versuchten. Ein Telegramm der Brünner Zentralhilfsstelle für Flüchtlinge etwa richtete sich an den tschechoslowakischen Innenminister mit der Bitte um Hilfe für 19 österreichische Flüchtlinge, die im Juli 1938 in der Gegend um Znaim (Znojmo) ohne Papiere über die Grenze gekommen waren. (7) Die Flüchtlinge wurden einen Tag später von der Polizei wieder an die österreichische Grenze gestellt.
Protokolle der Polizeibehörden geben auch Einblick in die Verzweiflung der Flüchtlinge, die versuchten, illegal die Grenze zu überqueren:
"Die Landesbehörde meldet gemäß Bericht der Polizeidirektion Bratislava, dass am 17. August 1938 um 0.50h unweit der tschechoslowakisch-deutschen Grenze am rechten Ufer der Donau der Versuch des illegalen Grenzübertritts von Seiten Pavel Kastners unternommen wurde, geboren am 25. März 1891 in Mährisch Ostrau, heimatberechtigt in Wien, jüdischen Glaubens, von Beruf Techniker, zuletzt wohnhaft in Wien VIII. Bezirk, Josefstädterstrasse Nr. 29, dem dabei Nikola Novakov behilflich war, 25-jähriger bulgarischer Staatsangehöriger, Gärtner, wohnhaft in Wolfsthal, Deutschland. Der Versuch gelang nicht, da die tschechoslowakische Grenzwache zugriff, welche die Genannten durchsuchte. Während der Durchsuchung nahm Pavel Kastner in einem unbewachten Augenblick ein unbekanntes Gift, worauf er nach 5 Minuten verstarb." (8)
Ausschnitte aus Interviews aus dem DÖW und dem Jüdischen Museum in Prag zeigen aber auch Handlungsspielräume der Grenzbeamten auf, die in Einzelfällen eine Flucht zumindest nicht aktiv verhinderten. Die politischen Veränderungen durch das "Münchner Abkommen" im September 1938 bzw. die sogenannte "Zerschlagung der Resttschechei" im März 1939 ließen die Tschechoslowakei für viele österreichische Flüchtlinge von einem Fluchtziel zu einer Transitstation auf dem Weg in andere Exilländer wie Großbritannien, Frankreich, Belgien oder die USA werden. Später wurden etwa 2300 österreichische Flüchtlinge aus dem "Protektorat Böhmen und Mähren" in die Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert, was in der Edition etwa anhand mehrerer Dokumente über das Schicksal des Ehepaars Guttmann verdeutlicht wird.
Anmerkungen
1) Nationalarchiv, Prag, Präsidium des Innenministeriums (225) 1936–1940, Sign. X/R/3/2, K. 1186-19.
2) Detailliert zur tschechoslowakischen Flüchtlingspolitik in den 1930er-Jahren: Kateřina Čapková und Michal Frankl, Unsichere Zuflucht: Die Tschechoslowakei und ihre Flüchtlinge aus NS-Deutschland und Österreich 1933–1938 (Köln: Böhlau, 2012). Siehe hier auch weitere Literatur zum Thema.
3) Theodor Guttmann, Dokumentenwerk über die jüdische Geschichte in der Zeit des Nazismus: Teil 1. Ehrenbuch für das Volk Israel. (Jerusalem: Awir Jakob 1943), S. 70 f.
4) Gert Tschögl, Barbara Tobler und Alfred Lang (Hrsg.), Vertrieben. Erinnerungen burgenländischer Juden und Jüdinnen (Wien: Mandelbaum, 2004).
5) Aron Grünhut, Katastrophenzeit des slowakischen Judentums. Aufstieg und Niedergang der Juden von Pressburg (Tel Aviv: 1972), S. 13–16.
6) Kinga Frojimovics, I Have Been a Stranger in a Strange Land. The Hungarian State and Jewish Refugees in Hungary, 1933–1945 (Jerusalem: International Institute for Holocaust Research, Yad Vashem, 2007).
7) Nationalarchiv, Prag, Präsidium des Innenministeriums (225) 1936–1940, Sign. X/R/3/2, K. 1186-16.
8) Nationalarchiv, Prag, Präsidium des Innenministeriums (225) 1936–1940, Sign. X/R/3/2, K. 1186-16, Nr. 26089.